Wie im Puppenhaus

Wie im Puppenhaus

August reibt sich die Augen. Mit der ersten Kraft des Tages wuchtet er sich auf die Bettkante. Er sieht sich um. Bett. Tisch. Wände. Drei Wände. Wie in einem Puppenhaus. Nur eben dreieckig. So wollte er es. Ein Innenarchitekt aus Hamburg-Harburg konnte ihm seinen teuren Wunsch nach einem Dreieck-Zimmer vor vielen Jahren erfüllen, das hatte ihn glücklich gemacht. Denn August pflegt eine Aversion gegen rechte Winkel. Sie sind ihm zu klar, zu eindeutig, zu vordefiniert, zu unspannend, immer gleich. Überhaupt mochte August die sturen Regeln der Mathematik nicht. Dort gibt es nur richtig oder falsch, kreative Antworten werden beim Rechnen nicht erwartet. Zwei mal drei ist eben nicht vier, Pippi Langstrumpf. Mathematik ist böse, Mathematik schreibt Dinge vor, Mathematik heißt, vier Wände haben zu müssen. „Das Leben besteht nicht aus Zahlen, das Leben besteht aus Kunst.“, hatte August einmal gesagt. Da gäbe es kein richtig oder falsch. „Jeder Mensch ist ein Künstler“, hatte Joseph Beuys einmal gesagt.

Auch August ist ein Künstler. Er ist Maler. Eines seiner bekanntesten Bilder zeigt einen Angler vor einer Pfütze. Der Angler trägt einen dieser typischen Fischerhüte und auch sonst hat er die komplette Angel-Ausrüstung bei sich. Sehr obskur, aber schön. An vielen Bahnhofskiosken werden Postkarten mit diesem Motiv verkauft. „VERSUCHE DAS UNMÖGLICHE“, steht in Großbuchstaben auf den Karten. Das Original hängt an einer der drei Wände in Augusts Zimmer. Sein Blick schweift darauf und er fragt sich, wer es bloß gemalt hat. Er kann sich nicht erinnern. Denn seit einigen Jahren ist August, der Maler, dement.

Eine Frau betritt das Zimmer und wünscht einen guten Morgen. August wünscht zurück. Seine Krankheit ist nicht jeden Tag gleich, es gibt gute und schlechte Tage. An guten Tagen hängt er ein „Doris“ hinter das „Guten Morgen“, heute nicht. Doch er erkennt sie, er weiß, dass sie ihm hilft und gut tut. Doris ist immer da gewesen und wird auch immer da sein. Wenn August nicht mehr weiß, wo er seine Hosen findet. Wenn August nicht mehr weiß, wie man die Fernbedienung bedient. Überhaupt: Wenn August nicht mehr weiß. Dann ist Doris da. Sie opfert ihre Freizeit und Freiheit für ihn; eigentlich könnte sie ihn verlassen, den Pflegern übergeben oder wenigstens jammern. Doch Jammern ist nichts für Doris. August ist was für Doris. Sie möchte bei ihm sein, auch wenn er immer häufiger neben sich ist und gewissermaßen fremdbestimmt wird, wie in einem Puppenhaus, eben. Sie nimmt ihn an die Hand und sagt: „Komm mit, wir malen.“

Im Keller steht noch eine große Staffelei, das Bild darauf ist sicher zwei Meter breit, die Ecken sind abgerundet. August mag keine rechten Winkel. Doris gibt ihm Palette und Pinsel in die Hand. Seine Hand zittert ein wenig, doch er weiß, was er zu tun hat. August ist Künstler. Auf der Leinwand sind bereits ein paar hilflose Striche und Kreise zu sehen.

„Da, da ist ja schon was drauf. Sieht nicht so schön aus“, sagt August.
„Du, August“, sagt Doris, „Du hast das gemalt, in den letzten Monaten.“
„Gut, dass ich das nicht mehr weiß. Mal gucken, ob ich es noch retten kann.“

Und dann versucht August, zu malen. Wie früher, wie immer. August ist ein Künstler. Er ist ein Maler.

Wenig später klingelt es an der Tür, Doris öffnet. Ein neuer Zivildienstleistender, mal wieder. Er stellt sich kurz vor, dann führt Doris ihn nach unten, ins Alz-Atelier, wie sie es nennt. Sie tappst August sachte auf die Schulter und macht ihn mit dem neuen Pfleger vertraut: „Hier, August, schau mal. Das ist Malte, er hilft uns für ein paar Tage ein wenig im Haushalt. Du brauchst dir seinen Namen nicht zu merken.“ „Hallo, ich bin Malte.“, sagt Malte schüchtern. August nickt etwas hilflos, er hat sich versehentlich die Nase rot angemalt. „Kommen Sie, wir lassen ihn weitermalen“, sagt Doris und schlurft mit Malte hoch in die Küche. Dort kommt es bei Kaffee und Plätzchen zum Dialog.

„Ihr Mann malt noch?“
„Jawohl! Wenn er malt, ist er in seinem Element.“
„Gut, schön. Man sagte mir, er hätte Demenz im Endstadium?“
„Ja. Die Ärzte gaben ihm noch maximal drei Jahre.“
„Wann?“
„Vor sieben Jahren. Aber mein August macht sich nichts aus Mathematik. Er ist Künstler, wissen Sie. Möchten Sie noch ein Plätzchen?“

Und währenddessen steht August unten vor seiner Leinwand und malt einen weiteren Strich. Dieses eine Bild muss er noch zu Ende bringen, vielleicht das letzte Meisterwerk. Vielleicht versucht er das Unmögliche und ist der kleine Angler vor der Pfütze, auf der Suche nach dem letzten großen Fang. Vielleicht aber hat er auch einfach nur vergessen, zu sterben.

(geschrieben am 28.11.2012)