Ungreifbare Musik
Konzert. Ich habe mich erwartungsfreudig in einer alten Bahnhofshalle eingefunden. Obwohl diese Räume hier seit Jahren keinen Bahnhofshallendienst mehr verrichten, riecht es, wie man es auch von aktuellen Bahnhofshallen gewohnt ist, nach: Pipi. In meinem Kopf stelle ich mir vor, wer hier alles schon an die Wand gepinkelt haben könnte. Menschen, die inzwischen Karriere gemacht haben. Menschen, die längst tot sind. Menschen, die geplatzt wären, hätten sie in ihrer Not nicht an die Backsteinwände gewendet. Diese Wände hier erzählen mehr Geschichten, als ich je schreiben werde. Mein Respekt vor Wänden wächst immens. Und für all diese Gedanken habe ich gerade reichlich Zeit, denn der eigentliche Grund für meine Anwesenheit, die Musik, wird noch nicht gespielt.
Überhaupt, die Musik.
Ich schätze sie so sehr wie keine andere Kunstform. Denn es ist so einfach und doch so schwierig, sie zu erzeugen. Im Grunde genommen genügen ein paar richtige Fingerbewegungen. Entweder man macht [hier virtuoses Fingergezappel vorstellen] oder [wildes Fingergezappel] oder [total wahnsinniges Fingergezappel plus cooler Gesichtsausdruck] und schwupps, Kunst. Wahrscheinlich kann man jeden Kunst-Erzeugnisprozess derart frech klein reden, aber weder bei Buch oder Bild ist der Vergleich von Ursache und Wirkung so beeindruckend wie bei Musik. Sie löst im bestmöglichen Falle derart viele Gefühle, Gedanken und Körperspannungen aus, dass sich vergleichbare Künste schämend in die Ecke stellen würden, wenn sie könnten. Um dies dem Leser näher zu bringen, wähle ich einen Vergleich: wenn beispielsweise Literatur auf mich wirkt wie eine leckere Flasche Bier, dann ist Musik mindestens ein 20l-Liter Fass schottischer Whiskey, in welches reihenweise Aufputschmittel und halsfreundliche „Rachendrachen“-Bonbons gekippt worden ist. Zu letztgenannten Wick-Bonbons, welche es früher immer in der Apotheke gab, wenn ich artig gewesen bin, komme ich, weil nun ein paar bärtige Männer auf die Bühne tappsen und wild husten. Sieh mal einer an, die Herrn Musiker sind da.
Und genau vierzehn Leute sind gekommen, um sie sich anzuhören. Beschämend wenig, aber ich muss mir keinen Vorwurf gefallen lassen, ich bin hier. Ohne ein ‚Hallo! Wir sind diese, machen das, hier kommt Lied 1, viel Spaß!‘ beginnt nun das Konzert. Ich schließe die Augen. Die wummenden Klänge lösen noch viel mehr aus, wenn man dies tut. Und das muss und darf man sich dann so vorstellen: man fährt mit geschätzt fünfhundert Kilometern pro Stunde auf einer endlos nach geradeaus führenden Autobahn und links und rechts neben der Fahrbahn explodieren wahllos Häuser, Kühe und Gebirge. Krabumm! Eine Explosion, die scheinbar niemals endet, dann aber doch. Zwischen den Liedern murmelt der singende Gitarrist ein unmotiviertes „Thank you“ ins Mikrofon und der Hall, der auf seiner Stimme liegt, lässt es zu einem „Thank you-uh-uh-uh“ werden. „Bitte schön, gern!“, rufe ich auf die Bühne. Ohne Hall.
Nicht, dass ich musikjournalistische Ambitionen hätte, aber ich bin Klugscheißer genug, um die Musik der bärtigen Hustenden als psychedelischen Krautrock zu definieren. Ein Schlagzeuger, zwei Bassisten und ein Gitarrist, der ab und an Textfetzen ins Mikrofon haucht, wobei man jedoch kein Wort versteht. Manch einer würde den Klangteppich, den diese Gestalten in den miefigen Ex-Bahnhofshallen auslegen, als Krach bezeichnen. Doch diese Art der Musik hat einen Trick, den man erst durchschauen muss: Jeder Musiker spielt seine eigene Melodie und scheißt darauf, was die Kollegen gerade so fabrizieren. So entstehen Lieder ohne Refrain, dafür aber mit schreibe und sage vier Melodien, aus denen sich der Zuhörer die liebste herausfiltern kann. Eigentlich, so könnte man meinen, ist dann doch für alle was dabei. Weit gefehlt. Diese Musik ist nur etwas für Leute, die einer bestimmten „Szene“ angehören oder wenigstens angehören wollen. Ich bin eine Mischung aus beidem, zudem alleine hier und wie so oft: der mit Abstand jüngste. Gewissermaßen bin ich die Szene in der Szene, worauf ich ein bisschen stolz bin.
Ganz vorne tanzt allein ein Typus Konzertbesucher, der sich wahrscheinlich auf jedem gottverdammten Konzert der Welt entdecken lässt. Es ist die mittelalte Frau mit den langen, braunen Haaren, die sich wie wild zu den Tönen bewegt und scheint, als hätte sie sämtliche Drogen der Welt in der richtigen Dosis zu sich genommen. Egal, ob vierzehn oder vierzehn mal neunzehn Zuschauer: es ist immer exakt eine – nie zwei oder null! – dieser Damen anwesend und meistens wird sie irgendwann vom Sicherheitsdienst ermahnt, weil sie versucht, sich eine Zigarette anzuzünden. Nicht so heute. Sie raucht und schwingt in Trance durch die Gegend. Wahrscheinlich heißt sie Brigitte. So kann sich nur eine Brigitte verhalten, stelle ich mir zumindest vor. Eine Gabi täte so etwas nicht. Eine Gabi stünde dort hinten, würde sich über den Geruch beschweren und nach zwei Liedern genervt nach Hause traben. Nicht so meine Brigitte! Tanz, Brigitte, tanz! Brigitte hat’s verstanden.
Nach gut einer Stunde Beschallung mit gefühlt tausend Dezibel schließt der Krachgarten Eden dann. Ich taumle auf die Straße und vermisse den Krach. In meinen Ohren fiepst ein temporärer Tinnitus, den ich als alter Konzerthase aber längst kenne. Noch verschwindet der unangenehme Ton nach einiger Zeit, aber irgendwann einmal wird er sich bei regelmäßigen Konzertgängern für immer ins Ohr einnisten. Dies ist dann sozusagen das körperinterne Gütesiegel dafür, dass man einen verdammt guten Musikgeschmack hat. Eine unsichtbare Auszeichnung. Gefällt mir.
Die Straßen sind komplett leer, ich gehe auf die Mitte der Fahrbahn, renne panisch nach vorn und versuche, auf Tempo fünfhundert zu beschleunigen, komme aber auf nur auf zwölf. Ich schließe die Augen und da ist: nichts. Tja, ärgerlich. Das kann nur: die Musik.
(geschrieben am 15.09.2011)