Stefan aus Bömmelsdorf

„Was willste trinken? Wasser, Fanta, Bier? Hab ich alles da.“ Stefan steht in einer hübsch wie unauffällig eingerichteten Küche, seiner Küche. Alles ist an seinem Platz, fast alle Gewürzgläschen sind bis oben hin voll. Auch die, die man als gelegentlich kochender Mensch häufiger braucht. Der einzige Magnet an der Kühlschranktüre hält eine Postkarte aus Südamerika, versendet aus Perus Hauptstadt Lima, mit dem Motiv nach vorne: Ein Wasserfall. Das inspiriert mich. Ich sage: Wasser, bitte. Er hält ein Glas unter den Strahl des Wasserhahns und lobt die Qualität des Leitungswassers hier, viel Natrium. Doch dafür bin ich nicht angereist. Ich bin nach Bömmelsbach gefahren, um mir Stefans Geschichte anzuhören. Ihn kennt hier jeder. Das an sich ist nichts Besonderes, da im Dorf ja immer sprichwörtlich jeder jeden kennt. Bei ihm ist es aber anders. Denn Stefan ist ein Hurensohn. „Meine Mutter stand immer an der Ecke Dammstraße/Kreuzweg. 40 mit, 80 ohne, die Preise kannte hier im Ort jeder. Noch D-Mark, nicht Euro, klar.“ Jeder Mann älter als 40 in Bömmelsbach könnte potentiell sein Vater sein, weiß Stefan: „Da sind natürlich welche bei, bei denen wäre es mir lieber als bei anderen.“ Er lacht und wirft eine dieser Brausetabletten in sein Wasserglas. Es blubbert, sie löst sich auf und macht, dass das Wasser nach Zitrone schmeckt. Ein bisschen wie Limo, aber gesund und trotzdem lecker, erklärt er. Er bietet mir eine Tablette an, ich lehne ab.

Nach seiner Geburt habe man bewusst auf Vaterschaftstests verzichtet. Vor allem aufgrund fehlender Testkapazitäten sowie der damals noch wenig zuverlässigen Ergebnisse. Hätte man Tests durchgeführt, er hätte heute auf dem Papier wahrscheinlich drei oder vier Väter, sagt er. Da wären ihm null lieber. Unsicher ist sicher. Ihm habe es auch nie an einem Vater oder einer Vaterfigur gefehlt. „Meine Mutter hat nach meiner Geburt noch weitergearbeitet und das dann oft von Zuhause aus. Wir hatten also regelmäßig vaterähnlichen Besuch bei uns. Manchmal brachten mir ihre Kunden Spielsachen mit oder Süßigkeiten.“ Während er all das erzählt, wirkt Stefan gar nicht so, wie man sich einen typischen Hurensohn vorstellt. Sondern ruhig, abgeklärt, mit der Situation, seiner Mutter und sich im Reinen. Er kenne es schließlich gar nicht anders als so, wie es eben ist, sagt er. Erst jetzt fällt mir auf, dass an einer der Wände ein gerahmtes Foto einer Frau hängt. Ist sie das, frage ich. Ja, sagt er. Stefan steht auf und nimmt das Bild ab, holt es heran. Zu sehen ist eine junge Frau in aufreizender Strapse, schwarz-weiß. Sie räkelt sich auf einer Matratze. „Hier ist sie nicht als Hildegard zu sehen, hier ist sie ‚Lilly Wonderland‘.“, sagt Stefan. Das sei ihr Name auf der Arbeit gewesen. Amerikanische Namen wäre bei der Kundschaft besser angekommen als die drögen deutschen Vornamen, die man aus dem eigenen Schlafzimmer kennt. Lilly, schöner Name, sage ich.

Stefan ist nun in Plauderlaune. Er berichtet von Hänseleien im Kindergarten bis hin zu Schwierigkeiten, eine Ausbildungsstelle zu bekommen, weil seine Mutter beruflich „Dorfschwänze kaut“ wie er oft zu hören bekam. Na und, ich bin ein stolzer Hurensohn, sagt er. Auch Freundschaften im Ort zu schließen sei für ihn schwierig, wegen der ganzen Vorurteile. Deswegen sei ich heute auch der einzige Gast, an seinem dreißigsten Geburtstag. Ich nicke verständnisvoll. Seine drei Brüder sind schon vor Jahren aus der Region um Bömmelsbach weggezogen, einer bis nach Südamerika. Von ihm stammt die Postkarte am Kühlschrank. Auf dem Küchentisch steht ein Marmorkuchen, liebevoll dekoriert mit bunten Servietten. Selbst gemacht? „Selbst gekauft“, sagt Stefan und lacht. Sein Schicksal habe ihn nie davon abgehalten, es nicht mit dem Kopf durch die Wand dennoch zu versuchen. Dann müsste man eben laut werden, zum Beispiel. Offensiv mit allem umgehen. Er sei wie die Typen im Action-Film, die sagen: Scheiß drauf, wir gehen rein. Derzeit sei er aber noch arbeitssuchend. Ob er sich vorstellen könnte, beruflich seiner Mutter nachzueifern? „Das habe ich versucht, als ‚Billy Wonderland‘“, sagt er und seufzt. Er möchte nicht näher darauf eingehen. Auch auf die wiederholte Nachfrage, wie es seiner Mutter denn heute ginge, antwortet er ausweichend: Das sei ein „schwieriges Thema“. Doch er möchte betonen: „Ich liebe meine Mutter, auch wenn sie eine Nutte war.“ Er schneidet uns drei Stücke Marmorkuchen ab, zwei für sich, eins für mich.

Kleine Vögelchen hüpfen derweil draußen auf der Fensterbank auf und ab, suchen Sonnenblumenkerne oder sowas. Durchs Küchenfenster sehe ich zudem, wie langsam die Sonne über Bömmelsbach untergeht. Zeit für mich, aufzubrechen und den Hurensohn allein zu lassen. Ich bitte Stefan noch um einen Ausblick in die Zukunft. Er plane fürs kommende Jahr ein großes Treffen aller Hurensöhne in Deutschland, erzählt er:„Als Treffpunkt habe ich mir ein Restaurant in München rausgesucht. ‚Maredo’ heißt das. Da haben die leckere Steaks.“ Der Austausch mit Leidensgenossen sei schon lange ein Traum von ihm gewesen. Hier im Dorf wäre er ja der Einzige, aber übers Internet ließe es sich heutzutage gut vernetzen. Rund 400.000 Hurensöhne gibt es in Deutschland, schätzt er. Viele wüssten auch gar nicht, dass sie welche wären. „In den meisten Familien wird nicht so offen über das Thema gesprochen wie bei uns. Das finde ich schade, da möchte ich Aufklärungsarbeit leisten.“ Deswegen auch mein Besuch. Er lächelt. Stefan ist ein Hurensohn. Er ist der Sohn einer Hure.