Goldfische die Toilette herunterspülen finde ich nicht so gut

Goldfische die Toilette herunterspülen finde ich nicht so gut

„Guten Tach, zwei Tickets für 19 Uhr, bitte!“ Ein kühler Wind flitzt über die Bordsteine der Nebenstraße, in der das einzig verbliebene Programmkino der Stadt mutig der allgemeinen Kulturverdrossenheit trotzt. Die Filmplakate und Leuchtreklamen an den Wänden wirken mindestens dreimal so alt, der Ticketschaltermann mindestens viermal so deprimiert wie ich. „Zwei Karten?“, fragt er grimmig und erwartungsgemäß nach, stehe ich doch allein vor dem Schalter. Ja, ich hoffe, dass noch jemand kommt, erkläre ich ihm. Das hoffe er auch. Die Filmrolle einlegen lohne sich erst ab vier Besuchern und dann auch nur, wenn reichlich geplatzte Maiskörner gegessen und Zuckerwasser getrunken würde. Die Worte kommen ausdruckslos aus ihm heraus, er hat sie schon häufig durch seinen längst ergrauten Weihnachtsmann-Bart sprechen müssen und auch ich höre sie nicht zum ersten Mal. Man kann sagen, Freude liegt nicht wirklich in der Luft. „Weißt du, junger Freund?“, sagt er und macht eine Pause, damit ich merke: Obacht, jetzt kommt was Wichtiges, „Wenn ich die Schlümpfe in 3D zeigen würde, dann wäre der Saal voll, am Wochenende dreimal am Tag. Aber ich zeige ihn hier nicht. Willste wissen, warum?“ Will ich.

„Weil die 3D-Filme der Schlümpfe unfasslich scheiße sind. Die fühlen sich an, als hätte jemand meine Kindheit genommen, ordentlich rektalen Zirkus veranstaltet, mit der Kettensäge kleingehexelt und dann draufgepisst. Deswegen zeige ich die 3D-Filme der Schlümpfe nicht. Und ich bekomme die Digitalkopie frühestens in ’nem halben Jahr, ist auch’n Grund.“ Gut, dann keine Schlümpfe. Ich nicke zustimmend. Was sie heute stattdessen zeigen wollen, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich lasse mich hier gern überraschen. „Überraschungen sind der Anfang des Begreifens“ hat ein spanischer Philosoph mal gesagt. Klingt schlau, wird schon stimmen. Bislang wurde ich auch nur einmal enttäuscht, als ich mir eine litauische Musicalverfilmung im O-Ton ansehen durfte. Musicals sind meine 3D-Schlümpfe. Also dann, was gleich wohl über die Leinwand flimmert? Japanischer Katastrophenfilm, französische Literaturverfilmung, Matthias Schweighöfer-Schmonzette: Theoretisch alles möglich. Letzteres wäre schade für meinen inneren Frieden, erscheint mir aber auch unwahrscheinlich. Wenn es heute überhaupt zu einer Aufführung kommt, noch bin ich der einzige Gast. Wieder einmal. Man fragt sich bisweilen, warum die Straßenlaternen überhaupt noch angeknipst werden, wenn ohnehin alle Zuhause bleiben.

Ich krame nach meinem Mobiltelefon, um herauszufinden, wo meine Begleitung bleibt. Oha, eine ungelesene Nachricht. „Hey Johannes, ich würde dich ja wirklich gern ins Kino begleiten, aber leider, leider: keine Lust. Hau rein!“ „Guten Tach, ein Ticket für 19 Uhr, bitte.“, sage ich. Der Kinomann versteht und lacht, der Schelm. Galgenhumor heißt: Fröhlich sterben. Aber eben auch: Sterben. Programmkino, du tapferes Relikt vergangener Tage. Zuerst kamen die Videokassetten, dann die Multiplex-Kinos, DVDs, dann dieses Internet und jetzt haben die Leute keine Lust. Kulturförderung der Stadt gibt es auch keine. Das Engagement einzelner, ewig begeisterter Cineasten so mit Nichtbeachtung zu bestrafen ist nicht viel besser als Goldfische die Toilette herunterzuspülen, finde ich. Der Lauf der Dinge, frech, unfair, ist halt so. Minuten vergehen. Zehn nach sieben, da kommt keiner mehr. „Was hätten Sie denn gezeigt?“, frage ich nach. „‚Juust õlu vanaema‘, ist’n estnisches Musical. Ganz neu. Hat gerade erst den zweiten Platz beim lettischen Filmpreis erhalten. Künstlerisch wertvoll in Szene gesetzt, tolle handgenähte Kostüme und ganz gut gesungen. Wär ne Deutschlandpremiere gewesen. Tja.“ Gespielte Enttäuschung meinerseits. Während ich mich dann wundere, was das Baltikum neuerdings an Musicals findet, wühlt der Kinomann unter seinem Tresen herum. „Mhhm, Feierabend, was?“, sage ich um Aufmunterung bemüht – keine Antwort. Weiteres Wühlen.

„Komm mit.“, murmelt er schließlich. Er schließt die Türe auf und wir schlurfen in den leeren Kinosaal. Dort ist es nur spärlich beheizt, es riecht nach Pistazie und vier Dekaden Besucherschwitze. Nach kleinen Brandflecken auf den Sitzen muss man nicht lange suchen und ich bin mir sicher, es gibt in Asien bereits Plasma-TV-Geräte, die größer sind als die hiesige Leinwand. Man fühlt sich – Achtung, Phrase – zurückversetzt in eine andere Zeit. Heruntergerockt, unperfekt, in dieser Umgebung sieht Kunst nach dem aus, was es leider manchmal ist: Arbeit. Ich mag’s hier. Aus dem Dunkel eine Stimme: „Wenn du den Film unbedingt sehen willst, dann sollst du ihn sehen. Die Kosten hol ich mit einmal Schlümpfe-Zeigen wieder rein. Setz dich.“ Er klingt verbittert und freundlich zugleich, holt mir Popcorn und Cola. Mir fällt auf, wie unangebracht jetzt mein Geständnis wäre, keine Lust auf estnisches Gehopse und Gesinge zu haben. Und so lasse ich es über mich ergehen. Schließlich mache ich ihm eine Freude, wenn ich vortäusche, dass er mir eine Freude macht. Kompliziertes Leben. „Überraschungen sind der Anfang des Begreifens.“ Nach zwölf teils arg wirren Songs und siebenundachtzig Minuten habe ich das Machwerk hinter mir. Die Kostüme waren tatsächlich ganz nett.

„Und?“, fragt der Kinomann. Ich antworte geschickt mit einer Gegenfrage:
„Wenn der Film nur den zweiten Preis geholt hat, was hat dann den lettischen Filmpreis gewonnen?“
„Ein argentinisches Drama über ein homosexuelles Tapir. Es verirrt sich in Buenos Aires, landet bei einer Tangoschule und mehr will ich nicht verraten. Zeigen wir nächste Woche.“
„Klingt gut. Da komm ich rum. Und ich bring nen Kumpel mit. Vielen, vielen Dank, ne. Tschö!“

Der Kinomann verabschiedet mich stumm und als ich das Lichtspielhaus verlasse, sehe ich, wie er auf die schwarze leere Leinwand starrt. Welche Gedanken auch immer gerade hinter seiner faltigen Stirn umherschwirren: Ich glaube, ich bringe nächste Woche nicht einen Kumpel mit. Sondern drei.