Ein sehr guter Krefelder Krimi
Prolog
Wir, das sind zwei. Er, Konrad Riemeke, vierundzwanzig Jahre alt. Und ich, Jacques Fleur, zwanzig Jahre alt. Unsere Hauptbeschäftigung ist Schlendern. Denn wir haben keine Berufe, aber Zeit. Wir haben kein Geld, aber Zeit. Kein Ziel, aber Krefeld um uns herum. Immerhin.
– 1 –
„Siehste!“, sagte er.
Vor uns das „Et Bröckske“. Eine Traditionsgaststätte, die vor einigen Monaten schließen musste. Da war sie wieder einmal, die Krefelder Tristesse. Dazu ein leichter Wind aus dem Osten, Nieselregen von oben. Ich zog meine Kapuze über, Konrad schien sich am Regen nicht zu stören. Er fummelte das vorletzte Streichholz aus seiner Schachtel, zündete sich heldenhaft (ohne hinzusehen!) eine Zigarette an. Dann tat er noch mehr Dinge, die man erwähnen könnte. Aber ich lasse sie spaßeshalber einfach mal weg. Passt ja auch gut zu Krefeld: Hier passiert so einiges, aber nur wenig davon ist wirklich erwähnenswert. Krefeld, die egale Stadt. Ohne eindeutiges Profil. Wenn jemand Krefeld in höchsten Tönen lobt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Gesprächspartner ein Krefelder ist, sehr hoch. Wird Krefeld andererseits heftig kritisiert, so ist der Gesprächspartner ebenfalls ziemlich sicher ein Krefelder. Am häufigsten ist jedoch ein Achselzucken, wenn von Krefeld die Rede ist: „Ja, NRW, irgendwo da. Ein Eishockeybundesligastadt? Gut, ist Iserlohn auch. Samt und Seide? Krawatten? Achso, Krawatten! Ja, Krawatten sind ganz schnieke, trage ich auf der Arbeit immer“ – Themenwechsel. Zurück zu Konrad und mir. Vor uns also das „Et Bröckske“. Eine Taube hüpfte herbei, suchte Krümel. Fand keine. Konrad, sichtlich unbeeindruckt, sprach weiter:
„Siehste, siehste, siehste! Et Bröckske. Das gute, alte. Auch geschlossen. Krefeld ist tot. Und weißt du was? Wir müssen den Mörder finden.“
Da war er. Unser Auftrag. Endlich etwas zu tun! Nicht mehr einfach nur sinnlos durch die Straßen schlendern, zwischendurch fressen, schlafen und Rest-Alltag. Und ich wusste genau, was Konrad meinte: Unsere Großväter, beide Krefelder seit immer, hatten uns tausendundviermal erzählt, dass Krefeld einmal die reichste Stadt am Rhein und vor allem: schön gewesen war. Wir bekommen von diesem alten Glanz – außer dem Funkeln in den Augen unserer Opis beim Erzählen – nicht mehr viel mit. Krefeld, die egale Stadt. Vielleicht wiederhole ich mich. Aber es konnte nicht allein der Reiz des Neuen sein, der dafür sorgte, dass neunzig Prozent meines Abiturjahrgangs nach erfolgreichem Abgreifen der allgemeinen Hochschulreife in andere Städte geflohen sind. Frankfurt, Leipzig, Hamburg, Köln, Mainz, Halle an der Saale und so weiter. Die Liste ist fast beliebig erweiterbar und: erschütternd. Halle an der Saale?! Jeder, der einmal in Halle an der Saale Zeit verschwenden musste, wird sich wünschen, diese Stadt hätte mindestens tausend Lokalpatrioten wie Konrad und mich. Achtung, bescheuerter Vergleich: Wenn Deutschland ein Körper ist, so stellt Halle einen fuseligen Popel dar, den sich niemand herauszupuhlen traut.
Ja, ein sehr lustiger Vergleich. Witze über Städte funktionieren immer und tendenziell eher ungeile Städte wie Halle an der Saale sind da ein beliebtes Ziel. Wie stellte André Herrmann irgendwann so trefflich fest: „Halle wird im Englischen auch ‚Hell‘ genannt.“ Ich selbst war noch nie in Halle an der Saale. Andererseits bin ich mir sicher, dass es selbst dort schöne Ecken gibt. Ich bin in manchen Dingen hoffnungslos romantisch, wobei die Betonung auf der Hoffnung liegt. „Alles kann besser werden, außer die erste Schallplatte von ‚Led Zeppelin‘, die wird immer unerreicht bleiben“, sagte mein Vater stets. So bin ich auch ein Optimist, was meine Heimatstadt angeht. Krefeld kann mehr als nur egal sein. Hm. Klingt wie das Wahlversprechen irgendeiner Partei. Ob die irgendjemand wählen würde? Schaut man sich die letzten Wahlergebnisse für den Stadtrat an, so kommt man relativ flott zu der Erkenntnis, dass den Krefelder Bürger Inhalte oder gar Personen nicht sonderlich interessieren. Hoffe ich zumindest. Unser amtierender Bürgermeister, Gerald Kathete, ist ein pensionierter Grundschullehrer, der im Wahlkampf ernsthaft forderte, man solle das altehrwürdige Samtweberhaus abreißen und anstelle dessen eine Multifunktionsarena namens „KAISER’SPalast“ errichten. Mit zehntausend Sitzplätzen. Ja, warum denn auch nicht? Falls einmal Madonna, die Rolling Stones oder der liebe Gott persönlich an den Niederrhein zu Besuch kämen, würden sie sich sicherlich freuen.
Aber ich gebe zu, ich schweife ein wenig ab. Kommen wir wieder zu Konrad und mir: Obwohl ich Konrad erst seit einem Jahr kenne, sind wir mittlerweile so etwas wie beste Freunde. Auf einem Konzert in der Kulturrutsche lernten wir uns kennen. Zwangsläufig, weil nur vier weitere Zuschauer die Punkband „Schwanz in den Mai“ sehen wollten. Eigentlich sind wir sogar recht verschiedene Typen: Konrad ist eher der lässige, coole Malefizkerl, dem man den Konsum von bewusstseinserweiternden Genussmitteln, Che Guevara-Poster und bedingungslose Spontaneität zutraut. Ich hingegen bin zwanzig Zentimeter kleiner, vier Jahre jünger und trage eine Brille. Unschwer zu erkennen, wer der spannendere Typ von uns beiden ist. Er ist der Chef. Er wird gefragt, ob er frischen Stoff oder gute Ideen parat hat. Mich fragt man höchstens nach der Uhrzeit. Aber daran habe ich mich gewöhnt. Zu einem guten Konzert gehört eben auch eine zweite Geige.
Und was wir gemeinsam haben: Wir mögen Krefeld. Allerdings trotz, nicht wegen seines Drecks, seiner Unvollkommenheit und Tristesse. Wirklich etwas dagegen getan haben wir bisher beide nicht. Eigentlich sind wir mitschuldig daran, dass Krefeld uns heute so öde erscheint. Wer Gesellschaft blöd findet, sollte vielleicht erst einmal nach den Spielregeln fragen. Apropos:
„Was denkst du denn solange vor dich hin? Thünnes. Was sagst du? Retten wir Krefeld?“, frug Konrad und warf seine Zigarette auf den Boden. Da hatte ich wohl ein paar Minuten mit Herumstehen und Denken verbracht. Kann ja mal passieren. Leicht verspätet antwortete ich:
„Ja, retten wir Krefeld! Ich hätte Zeit und Lust.“
„Kannst du Freitag?“
„Natürlich kann ich Freitag. Du weißt doch, ich kann jeden Tag, außer…“
„Außer Sonntag, da erst abends, dann da spielt der FCÜ. Ich weiß.“
„Also, Freitag?“
„Freitag.“
„Freitag!“
„Freitag.“
„Freitag!“
„Ab Freitag fragen leben wir nach der Devise: Schöne Ecken schön finden, unschöne Ecken schöner machen. Abgemacht?“
„Abgemacht.“
„Ab Freitag.“
„Freitag.“
„Freitag?“
„Ja, Sonntag kann ich erst spät. Da spielt Uerdingen gegen Hönnepel-Niedermörmter. Freitag?“
„Idiot. Aber ja, Freitag geht klar!“
„Geht klar.“
„Freitag!“
„Bis Freitag dann!“
„Jau, bis Freitag!“
Wir verabschiedeten uns lässig mit Handschlag, setzten uns auf unsere klapprigen, garantiert längst nicht mehr straßenverkehrssicheren Fahrräder und radelten davon. Er in Richtung Cracau, ich Richtung Forstwald. Dann sahen wir uns drei Tage lang nicht. Dann war Freitag. Überraschung.
– 2 –
Unser Treffpunkt sollte ein kleines Café in der Nadelbaumstraße sein. Dort trafen wir uns regelmäßig, es gefiel uns ausgesprochen und aufgeschrieben gut. Allein, dass das Café auf einen Namen der Kerbe „Susanne’s Kaffeekränzchen“ verzichtet und sich einfach nur „Café“ nennt, sorgt regelmäßig für Freude und dieses seltene Funkeln aus den Augen unserer Großväter. Fest stand: Wir brauchten mehr Gründe für dieses Funkeln. Krefeld schöner machen stand schließlich auf unserer Agenda. Ich war voller Tatendrang, ich hatte mir einige sehr gute Notizen auf losen Blättern gemacht und war entgegen meiner Natur überaus pünktlich. Doch von meinem Kompagnon fehlte noch jede Spur. Hatte er mich vergessen? Hatte ihn auf dem Weg jemand nach gutem Stoff gefragt? Oder war er gar noch im Bett? Zwölf Uhr mittags ist längst noch nicht seine Zeit. Aber ich hatte bewusst diese frühe Uhrzeit gewählt, weil ich weiß, dass die junge Café-Aushilfe Anette gegen zwölf immer frisch die Croissants belegt. Anette wiederum weiß, dass ich für mein einziges Leben gern Croissants mit Erdbeermarmelade speise. In letzter Zeit bin ich häufig um diese Uhrzeit hier und es hat fast schon Züge einer Beziehung, wenn sie mir lächelnd und selbstverständlich den Teller mit Erdbeermarmeladen-Croissant vor die Nase stellt. Müsste ich sie dafür nicht entlohnen und gäbe mich obendrein mit ihr der Arterhaltung hin, so wären wir ein richtiges Paar. Ein glückliches, bestimmt. Es kommt vor, dass ich mir das wünsche. Gewiss würde Krefeld auch dadurch ein kleines Stückchen besser, vielleicht sollte ich darüber mal mit Konrad reden. Ach ja, stimmt, Konrad. Beinahe hatte ich ihn vergessen. Ich rief ihn an. Es klingelte dreimal, da konnte ich ihn am anderen Ende der Leitung hören.
„Jep?“
„Konrad?“
„Ja, Jacques, du alter Puddingklotz! Was gibt’s?“
„Schau mal auf die Uhr. Zehn nach zwölf! Ich warte!“
„Nur Geduld! Ich wurde aufgehalten. Hast du dein Croissant schon aufgegessen?“
„Noch nicht, noch nicht… Wo steckst du denn?“
„Am ‚Et Bröckske‘. Bin gleich da! Es gibt gute Neuigkeiten! Mehr gleich!“
„Okay, bis gleich!“
„Jaja, bis gleich! Sag mal, trägt Anette wieder diese enge Schürze und diese hochgestellte Frisur? Ich kann auch trödeln, wenn du verstehst, hehe …“
„Sei bloß ruhig! Beeil dich, bis gleich.“
Aufgelegt. Woher wusste er von Anette und mir bzw. von mir und Anette in meinem Kopf? Er kannte mich noch besser als ich es befürchtet hatte.
Es vergingen noch ein paar Minuten, bis Konrad am Café erscheinen sollte. Ich blätterte also ein wenig in der Westdeutschen Post, um mir die Wartezeit zu verkürzen. Äußerst interessante Schlagzeilen sprangen mir ins Gesicht: KLEINGÄRTNERVEREIN BICKSSCHAUM WIRD 50 JAHRE ALT – KATHETE ÜBERREICHT SILBERNEN GARTENZWERG. PLATZ VOR MUSEUM WIRD IN CACO-PLATZ UMBENANNT. NEUES STRAßENBAHNLINIENNETZ – FÄHRT U18 BALD BIS NACH ISTANBUL? Interessant, interessant. Ich las gerade einen interessanter Artikel über irgendetwas, da klopfte mir jemand auf die Schulter. „Na, du Honk, wurde aber auch Zeit!“, sagte ich, drehte mich um und stieß fast das Croissant aus Anettes Händen. Rasch entschuldigte ich mich, ich hatte schließlich nicht sie gemeint, aber sie lächelte nur und strich sich mit der linken Hand über ihre hochgestellten Haare: „Hier, dein Croissant. Mit extra-dicker Erdbeermarmelade. Lass es dir schmecken! Und lass uns doch in meiner Mittagspause mal in die Küche verschwinden, vielleicht kannst du mir aus meiner Schürze helfen, sie ist so unheimlich eng genäht…“ Den letzten Satz sagte sie nur in meiner Fantasie. Stattdessen sagte sie das Folgende, weniger Schöne: „Achso, Jacques, das ist heute übrigens mein letzter Tag hier im Café. Ich habe meinen Job gekündigt, aber aus gutem Grund: Die Pangasius-Universität in Halle hat mich angenommen! Stell dir vor! Party, Party! Dieses letzte Croissant geht auf mich!“ Innerlich weinte ich bitterlich wie jemand, der sehr bitterlich weint, äußerlich freute ich mich natürlich unheimlich für sie. „Toll, Glückwunsch! Halle! Wow!“ Wir wechselten ein paar egale, unverbindliche Worte, dann verschwand sie auch schon freudestrahlend zurück hinter die Theke und ließ mich armen Tropfen allein zurück. Das Croissant schmeckte heute noch besser als ohnehin schon, ich genoss jeden Bissen.
Weitere Minuten waren vergangen, da betrat endlich Konrad die Szenerie. Wir begrüßten uns lässig per Handschlag, nahmen an unseren Stammplätzen Platz. Leise erzählte ich ihm von Anette und mir und dass sie Krefeld verlassen würde und ich sehr traurig darum war. Und Konrad tröstete: „Weißt du Jacques, die Pubertät ist eine schwierige, zähe Phase im Leben. Aber sie geht vorbei. Kopf hoch! Und Hand runter. Wenn du verstehst. Haha!“ Konrad war eigentlich viel zu cool für mich. Wir lachten ein wenig, währenddessen starb Anette abseits unserer Blicke plötzlich an AIDS.
[Einschub des Autors: Ich weiß, das kam jetzt unter Umständen etwas überraschend und mag auf manch einem Leser wie ein völlig deplatzierter Bruch mitten in der Geschichte vorkommen. Doch erstens ist so das Leben, zweitens ist Anettes spontaner Tod vielleicht eine sehr, sehr gute Metapher für irgendetwas, drittens ist das hier strenggenommen ein Krimi – da sterben nun einmal Menschen und viertens ist das hier meine Geschichte. Bitte lesen Sie weiter.]
Konrad und ich wendeten uns nun dem eigentlichen Grund unseres Treffens zu: Krefeld retten. Entgegen meiner Erwartungen brachte auch Konrad etwas Produktives mit, auch wenn hier der Zufall seine Finger im Spiel gehabt hatte: „Du, ich war doch vorhin beim ‚Et Bröckske‘. Und weißt du was? Da ist so’n Typ, der will unten wieder ein Lokal eröffnen! Und da drüber sollen Menschen einziehen! Richtig geile Wohnungen sind das, top Lage, relativ günstig. Ist doch total geil, endlich passiert mal wieder etwas in Krefeld! Wollen wir da ne WG gründen? Du, ich und noch jemand?“
„Klasse Idee“, antwortete ich euphorisch, „ich hätte gern Anette dabei gehabt, aber die ist ja jetzt tot. Schade eigentlich.“ „Ja, schade. Aber wir finden bestimmt noch jemanden!“ „Bestimmt! Also ich bin dabei!“ „Töfte!“
Und dann verloren wir uns in endlosen Fantasieketten. Wir malten uns aus, wie unsere neue WG aussehen sollte, wer wohl unsere Nachbaren werden würden und und und. Ich wohnte noch bei meinen Eltern, die sicherlich eine große Fete feiern würden, wenn ich endlich meine eigene Wohnung bezöge. Konrad wohnte in einer winzigen Einzimmerwohnung in Cracau. Journalisten würden an dieser Stelle den altbekannten Saarland-Vergleich heranziehen, doch ich glaube nicht, dass auch nur ein einziger saarländischer Baum in Konrads Wohnung passen würde. Ich bin nicht gut in Mathe, aber wahrscheinlich passt das Saarland nicht einmal im Maßstab 1:1.000.000.000 in Konrads Wohnung. Sei es drum. Unser eigentliches Thema kam durch die Wohnunggeschichte vielleicht ein wenig zu kurz, aber warum nicht erst einmal uns selbst retten – und dann die Stadt?
– 3 –
Als ich Konrad das nächste Mal traf, kam ich gerade vom Heimspiel der Uerdinger gegen Hönnepel-Niedermörmter. Uerdingen hatte 7:3 gewonnen, es war ein tolles Spiel in der Rothenburg-Krampfbahn gewesen, ich hatte sehr gute Laune. Schade, dass sich Konrad nichts aus Fußball machte. Er interessierte sich auch nie für die Ergebnisse, vielleicht konnte er Sieg, Remis oder Niederlage aber auch ohne Worte einfach so aus meinem Gesicht ablesen. „Na, hat deine Rumpeltruppe gewonnen!“, begrüßte er mich, als wir uns „UdL“ („Unter der Laterne“) trafen. Ich grinste zurück: „Korrekt, korrekt.“ „Na, fein, dann können wir ja jetzt über die wirklich wichtigen Dinge im Leben sprechen.“ Ich wurde nun ein wenig ungehalten. Selbst beim Fußball hatte ich den einen oder anderen Gedanken an die mögliche WG verschwendet. Meinem Alter angemessen müsste ich sagen: Es wäre schweinegeil, wenn das klappen würde.
„Kriegen wir die Wohnung? Ja, ja, ja?“
„Nee, leider nicht. So ne Olle namens Dora Kolumna hat uns die letzte Wohnung vor der Nase weggeschnappt. Dora Kolumna! Was ist das denn bitte für ein Name? Wahrscheinlich ist sie auch noch Journalistin von Beruf. So etwas denkt sich doch niemand aus!“
„Das stimmt, das stimmt… Aber die Fantasie mancher Eltern scheint größer zu sein als das Saarland.“
„Was?“
„Schon gut. Aber schade um die Wohnung.“
„Ja, schade. Vieles ist schade, weißt du.“
Und damit hatte Konrad, wahrscheinlich unfreiwillig, eine perfekte Brücke zur „Operation: Krefeld retten“ geschlagen. Wir schoben unsere Fahrräder den Ostwestsüdnordwall hinauf und ich arbeitete langsam die Punkte meiner „Krefeld-Problem-Liste“ ab:
„Ich weiß, von Fußball hältst du nichts, aber weißt du, was ein Problem ist? Viele Krefelder fahren am Wochenende nach Mönchengladbach, nur um dort Fußball anzuschauen. Ich verstehe das nicht. Da fahren Krefelder nach Mönchengladbach und rufen ‚Gladbach‘, ‚Gladbach‘! Wieso gehen die nicht zu einem Krefelder Verein und unterstützen diesen?“
„Weil sie nicht wollen, vermute ich. Lass sie doch.“
„Ja, okay. Finde ich nicht gut. Aber was ist mit Konzerten: Du weißt doch noch, wie viele Leute außer uns damals bei ‚Schwanz in den Mai‘ in der Kulturrutsche waren, oder?“
„Das weiß ich noch. Es waren vier. Aber wenn wir ehrlich sind, haben die auch nicht viel mehr Zuschauer verdient gehabt. Erinnerst du dich nicht mehr an den Schlagzeuger, der mit Bleistiften getrommelt hat? An den Gitarristen, der mit seinem Schniedelwutz die A-Dur-Tonleiter auf der Gitarre spielte?“
„Daran erinnere ich mich natürlich noch. Ich fand das eigentlich recht witzig. War das nicht Kunst?“
„Nein.“
„Punk?“
„Nein! Punkmusik heißt nicht, dass man alles machen darf. Es bedarf vielen Details, damit Scheiße unterhaltsam ist. Und Provokation alleine, ohne Hintergrund, ist nichts wert. Das ist vielleicht mal ein gutes Mittel, um mal ein paar Idioten zu beeindrucken. Aber mehr nicht.“
„Ja, okay. Aber was ich eigentlich sagen wollte: Es wäre doch schön, wenn die Krefelder wieder Konzerte in ihrer eigenen Stadt ansehen würden!“
„Natürlich wäre das schön. Aber es wäre auch schön, wenn Bands wie ‚Schwanz in den Mai‘ ihre Instrumente an ein Waisenheim spenden und AIDS bekommen würden. Das, was die da gemacht haben. Das zerstört die Kunst.“
„Das hast du jetzt nicht wirklich gesagt, oder?“
„Doch. Hört uns doch keiner.“
„Hör zu: Anettes Tod ist noch sehr frisch, ich möchte nicht, dass du da jetzt schon Witze drüber machst.“
„Ab wann darf ich denn Witze darüber machen?“
„Zweitausendvierzehn.“
„Geht klar.“
„Jetzt mal im Ernst, Konrad. Willst du überhaupt was verändern?“
„Joa, glaube schon. Ich weiß aber nicht, ob wir das können.“
Wir beide waren uns nach diesem etwas unglücklichen Dialog wohl nicht ganz sicher, wie ernst die letzten Wortwechsel tatsächlich gemeint waren. Jedenfalls war ich mir unsicher, ob ich nun weiter zielorientiert mit ihm über Krefelds Zukunft sprechen könnte oder nicht. Auch er sagte nun nichts mehr. Wir schlenderten also still durch die Straßen, es wurde allmählich dunkel. Und wir schwiegen weiter. Und weiter. Es heißt, dass eine gute Männerfreundschaft dadurch beweisbar wäre, dass man auch gemeinsam schweigen könnte. Ich hingegen empfand die Stille als ziemlich untöfte. Ich wollte doch etwas bewegen! Es standen noch so viele Punkte auf meiner Liste! Das Berufskolleg, das Fehlen von guten Plattenläden, die dreckigen Badeseen und noch ein paar Dinge mehr. Die Minuten vergingen und es passierte, typisch Krefeld, nichts.
– 4 –
Mittlerweile hatten wir uns sechs Flaschen Bier besorgt. Landbaron Pils. Schmeckt nicht lecker, ist aber günstig und ein Krefelder Bier. Lokalpatriotismus muss nicht immer angenehm sein, günstig aber schon. Und nachdem Konrad zwei Flaschen geöffnet hatte, schien er auch das Sprechen wiedererlernt zu haben: „Prost!“ Wir stießen an. Ich wusste nicht genau, worauf.
Auf der gegenüberliegenden Seite blickten wir auf die Eingangspforte der größten Krefelder Disco: der Kaiserburg. Kein besonders schöner Ort, finde ich. Wer hier so herumtappst! Eigentlich mache ich mir ja nichts aus Klischees, aber die Gestalten, die dort ein und aus gingen, lassen sich nur schwerlich ohne die Begriffe „Halbstark“, „Solariumbräune“ und „Fitnesscenter“ beschreiben. Man las in der Zeitung häufig von gewaltsamen Auseinandersetzungen, die hier ausgetragen werden. Neulich gab es sogar eine Schießerei. Kann man sich ja kaum vorstellen, dass so etwas in der eigenen Stadt passiert. Kommt aber vor. Und es kommt leider ebenfalls vor, dass die Polizei diese Straße aus Selbstschutz meidet. Nicht schön, wenn Selbstjustiz herrscht.
„Siehst du“, ergriff Konrad das Wort, „da ist ganz schön was los. Musik, Mädels, Alkohol. Alles da. Weißt du was? Ich habe mich geirrt. Krefeld ist gar nicht tot. Es lebt nur an den falschen Stellen.“ „Wie meinst du das?“, hakte ich nach. „Schau dir das Drama doch an. Das ist Krefelds Jugend. Krefelds Zukunft. Diese Gestalten! Wie sie da torkeln, gröhlen und versagen! Versager sind das. Weil sie diejenigen sind, die es nach der Schule nicht geschafft haben, diese Stadt hier zu verlassen.“ „So wie wir?“ „So wie wir.“
Nach diesen Worten machte Konrad eine Pause. Er wusste wohl, dass er etwas Bedeutsames gesagt hatte. Es klang aus seinem Mund verdächtig nach Kapitulation. Er kramte Zigaretten und Streichhölzer aus seiner Hosentasche und zündete sich eine Zigarette an. Dieses Mal schaute er dabei sogar hin.
– 5 –
Da riss plötzlich der Himmel auf und ein sehr, sehr kleiner Mann mit einem Bart, der aussah wie Schambehaarung erschien am Himmel. Er schien gewisse Kräfte zu besitzen, die es ihm erlaubten, die Gesetze der Schwerkraft zu missachten. Langsam ließ er sich von selbigen auf den Boden geleiten und setzte sich auf Konrads Knie. Starker Auftritt. Er sprach:
„Guten Tach. Ich bin, der liebe Gott. Könnt ruhig ‚Gott‘ zu mir sagen, ich bestehe nicht auf das Adjektiv. Nun aber zum Wesentlichen: Ich verfolge jetzt seit einigen Tagen, was ihr zwei da so plant und veranstaltet. Und ich möchte euch sagen: Ihr seid auf dem richtigen Weg. Gebt jetzt nicht auf. Für die Zukunft einer Stadt ist es wichtig, dass sie sich Gedanken macht und die schönen Plätze pflegt. Ach, übrigens, das tut hier eigentlich nichts zur Sache, aber: Ist der KAISER’SPalast eigentlich fertig?“
„Nein, Gott. Noch nicht.“, kam es gerade noch aus mir heraus.
„Schade. Sei es drum. Was ich euch mitteilen wollte: Macht einfach weiter so. Überlegt euch, wie ihr eure – zugegeben, sehr hässliche – Stadt mit kleinen Gesten wieder auf Vordermann bringen könnt. Es muss ja nicht gleich die große Revolution sein. Hier ein paar kleine Tipps, so von Erschaffer der Welt zu Kleinbürger: Kauft eure CDs nicht in den großen Fachmärkten, sondern im kleinen Plattenladen in der 9-Passage. Schaut euch Kinofilme im kleinen Programmkino auf der Leberwurststraße an. Geht auf Konzerte in der Kulturrutsche.“
„Auch, wenn ‚Schwanz in den Mai‘ dort spielen?“, unterbrach Konrad Gott. Erstaunlich, wie selbstbewusst Konrad war. Er war definitiv der Coolere von uns beiden.
„Gerade dann!“, sprach Gott. „Wir im Himmel sind große Fans von ‚Schwanz in den Mai‘! Sie spielen wirklich großartig. Man könnte fast sagen, ihre Musik ist ein Wunder, höhö.“
„Ich dachte, Punkmusik sei Teufelswerk?“, hakte Konrad nach.
„Ach, der schmückt sich gern mit fremden Federn. Ein Blender, weißt du.“, erklärte Gott, „Aber Jungs, ich muss jetzt wieder los. Hier eine Sintflut, da eine Spontanheilung, zwischendurch ein paar Gebete. Da ist eine ganze Menge zu tun! Ich hoffe, ihr habt von mir gelernt und empfehlt mich weiter.“
„Von mir aus. Hau rein, Gott! Man sieht sich.“ Konrad verabschiedete Gott lässig mit Handschlag. Konrad war so verschissen cool. Wahnsinn.
Doch dann fiel mir auch noch etwas ein: „Halt Stop! Sag mal, Gott. Wieso musste Anette eigentlich sterben? Musste das wirklich sein? Verbarg sich hinter ihrem Tod irgendeine sehr, sehr kluge Botschaft, die wir nicht verstanden haben?“
„Anette?“, Gott kratzte sich an seinem Bart, der tatsächlich verdächtig nach Schambehaarung aussah, „Achso, die mit den Croissants. Sieh mal dort, sie ist doch gar nicht tot. Sie lebt! Hurra, hurra! Und nun Adieu mit ö, Freunde, ich muss jetzt wirklich los!“, sprach Gott und verschwand so plötzlich wie er erschienen war.
Und tatsächlich! Gott hatte recht! Anette war wohlauf und winkte uns von der anderen Straßenseite süß lächelnd zu. Sie trug ihre enge Schürze und die Haare waren 1a hochgestellt. „Danke, Gott!“, dachte ich bei mir und hielt anerkennend den Daumen in Richtung Himmel, ehe ich auf die andere Straßenseite lief, um Anette um den Hals zu fallen. Sie erzählte mir, dass sie nur versehentlich gestorben war und Gott ihr geraten hätte, lieber nicht nach Halle zu ziehen und stattdessen in Krefeld zu bleiben. Na gut, hatte sie gesagt und jetzt war sie zurück. Hurra!
Auch Konrad lächelte wieder ein wenig. Er steckte sich eine Zigarette an und sah dabei nicht hin. Sehr cool, Konrad. „Siehste!“, rief er mir zu, „Krefeld ist gar nicht so richtig tot. Und falls doch, dann waren wir die Mörder, weil wir nichts getan haben! Haha, geile Moral, was? Man muss nur wollen! Dann kommen der Zufall und der liebe Gott und alles wird gut! Prost!“
(geschrieben am 28.08.2012 / Das Grund“konzept“ entsprang einer Idee aus der Facebook-Gruppe „Wenn du in Krefeld aufgewachsen bist, dann…“)