Der Talk

Der Talk

Eine heitere Melodie ertönt, Kameramenschen und weitere Techniker wuseln aufgeregt durch das kleine TV-Studio, am Rande einer Großstadt gelegen. Und da kommt auch schon der Moderator der Sendung grinsend die Treppe heruntergetänzelt und wirkt, als würde er sich ehrlich auf die Aufzeichnung freuen. Das Studiopublikum fühlt sich derweil zu einem höflichen ersten Applaus eingeladen. Die Sendung beginnt.

Moderator:
Sehr geehrte Damen und Herren, ich heiße Sie herzlich Willkommen zu unserem kleinen Talk am Sonnabend! Schön, dass Sie wieder mit dabei sind. Ohne große Vorrede kommen wir sofort zum Wesentlichen: Gewiss haben Sie bereits den Zeitschriften, dem Rundfunk oder dem allgemeinen Geplaudere auf den Straßen entnehmen können, dass an einem Thema derzeit niemand vorbeikommt, der sich auch nur peripher für irgendetwas interessiert. Selten waren Gemüter erregter, wurden Debatten leidenschaftlicher geführt und ich bin mir sicher, auch Sie vor den TV-Geräten Zuhause haben bereits im Kreise der Familie, auf der Arbeit oder beim Stammtisch den ein oder anderen Satz zu diesem Thema verloren. Doch wir in der Redaktion, wir waren der Meinung, es müsse Schluss sein damit, nur über anstatt mit Betroffenen zu sprechen. Und was soll ich Ihnen sagen, verehrtes Publikum, nach intensiver Recherche ist es meinen fantastischen Redakteuren tatsächlich gelungen, uns diesen Wunsch heute Abend zu erfüllen. Bitte klatschen Sie in die Hände für: einen Betroffenen!

Unter polterndem Applaus tritt ein schmächtiger Mann die Treppe herunter und setzt sich verlegen auf den für ihn vorgesehenen Stuhl. Schüchtern winkt er zunächst in die Kamera, dann zu den Publikumsrängen, dem ihm euphorisch begrüßenden Moderatoren gibt er die Hand. Der Handschlag dauert exakt zwei Sekunden zu lang, um nicht unangenehm zu sein.

Moderator:
Guten Abend erst einmal! Und vielen, vielen Dank, dass Sie Zeit und Mut mitgebracht haben, um mit uns zu über Ihre Situation, Ihre Geschichte zu sprechen. Tolle Sache und ein schönes Zeichen in unsteter Zeit! Ich beginne unser Gespräch mal mit einer ganz einfachen, lockeren Einstiegsfrage: Sie sind also betroffen?

Betroffener (vorsichtig):
Äh, hallo, ja, ich bin betroffen.

Aufmunternder Applaus aus dem Publikum.

Moderator (bedrückt und leise):
Das ist ein starkes Stück, so etwas dann nochmal direkt aus Ihrem Munde zu hören. Danke vielmals nochmal für Ihren Mut, sich hier zu äußern. (wendet sich zum Publikum, hebt die Stimme) Da kann man ruhig noch mal klatschen, oder was meint unser fantastisches Publikum? (findet das Publikum auch, es klatscht) Ihr heutiger Auftritt ist, soweit möchte ich gehen, ein bemerkenswerter Beitrag zum aktuellen öffentlichen Diskurs und wird gewiss vielen unserer Zuschauerinnen und Zuschauern die Augen öffnen. Doch rollen wir den Stein erst einmal langsam den Berg hoch, wie meine Großmutter stets zu sagen pflegte, haha. (er macht eine Pause, damit das Publikum Zeit hat, zu schmunzeln. Sie wäre nicht notwendig gewesen) Also, können Sie uns sagen, seit wann Sie genau betroffen sind?

Betroffener (ist sich unsicher):
Joa, so seit, weiß ich nicht, drei Wochen?

Moderator (fühlt mit):
Und es war bestimmt nicht leicht, sich das damals einzugestehen? In Augenkontakt mit der Gewissheit zu treten? Die Realität so spürbar wahrzunehmen? Das gesamte Sein so unvermittelt in Frage stellen zu müssen? Die Suppe der Wahrhaftigkeit auszulöffeln? Den salzigen Geschmack von geistiger Klarheit auf der Zunge zu schmecken? Für uns Außenstehende ist es gar nicht so leicht, sich hineinzuversetzen in Ihre Lage, Ihre Gedanken, Ihr Seelenleben nachzuvollziehen. Da muss doch blanke Panik herrschen und Angst, gewürzt mit etwas Verzweiflung, oder wie fühlt sich das an? Auf dem Feld der ungekannten Gefühle kapituliert der Laie. Daher die einfache Frage: Wie fühlen Sie sich im Moment?

Betroffener:
Also, ehrlich gesagt bin ich gerade ein bisschen aufgeregt, wegen der ganzen Kameras und Leute hier, das ist ja auch nicht alltäglich für jemanden wie mich und…

Moderator (unterbricht):
…da können wir ja gleich mal ansetzen, erzählen Sie doch zunächst mal etwas über sich, über Ihr Leben, was Ihren Alltag erhellt, wie sie sich die Minuten und Stunden des Tages angenehm gestalten, was Ihnen ein Lächeln aufs Gesicht zaubert und was Sie morgens aus dem Bett purzeln lässt. Was sind Sie zum Beispiel von Beruf?


Betroffener (wie auswendig gelernt):
Ich leite seit einiger Zeit ein mittelständisches Unternehmen, das sich auf die Dressur von ungewöhnlichen Haustieren spezialisiert hat. Das Haustierssegment ist eines der am schnellsten wachsenden Umsatzträger unserer Zeit, das klassische Haustier wie etwa eine Katze oder ein Wellensittich ist heutzutage jedoch vielen Menschen zu langweilig, so dass auf exotische Tiere zurückgegriffen wird. Und immer mehr Leute wünschen sich dann, dass ihre Geckos, Hausschweine oder Kolibris ähnliche Kunststücke vollführen können wie etwa der pelzige Nachbarshund, der auf Kommando eine Rolle seitwärts ausführen kann. Und da kommt unser Betrieb ins Spiel: Ausgebildete Tierdompteure gehen individuell auf die Wünsche unserer Kunden ein und können, je nach Tierart, auf bis zu vierzig verschiedene Kunststücke zurückgreifen. Erst letzte Woche beispielsweise habe ich für einen Kunden einem Pfau einen Salto beigebracht. Sie müssen sich das mal vorstellen, wie majestätisch es aussieht, wenn so ein Pfau mit seinem hübschen Federkleid einen Salto vollführt. Ein Salto ist allerdings schon ein Kunststück im höheren Preissegment.

Moderator (irritiert):
Äh, okay. Lassen Sie uns wieder zum Thema zurückkommen. Seit drei Wochen sind Sie betroffen, sagten Sie uns eben, die älteren werden sich vielleicht noch dran erinnern, haha! (erneute kurze Pause, tatsächlich sind einige Lacher aus dem Publikum zu hören) Aber Spaß beiseite, ist schließlich ein ernstes Thema. Pardon. Können Sie uns erzählen, wie es bei Ihnen angefangen hat?

Betroffener:
Nun ja, es war ein Mittwoch. Und kam ganz plötzlich.

Moderator (hakt nach):
Ganz plötzlich?

Betroffener:
Ja, ganz plötzlich.

Moderator:
Ganz plötzlich wie ein Hagelschauer aus heiterem Himmel, wie ein Wurm im frisch gepflücktem Apfel, wie ein stechender Kopfschmerz, wie die Nebenkostenabrechnung, die Steuererklärung oder die Hochzeit der kleinen Schwester, das Ende des Braunkohleabbaus, ein Satzzeichen in einem wütenden Kommentar im Internet, der erste Advent, so überraschend wie der Umzug des besten Freundes in eine andere Stadt am anderen Ende der Welt oder wie eine Finanzkrise? Also so richtig, richtig plötzlich?

Betroffener (fühlt sich verstanden):
Ja, genau!

Moderator:
Interessant! Vielen Dank bis hierher für Ihre ehrlichen Ausführungen, doch nun wollen wir uns endlich unseren zweiten Gast mit ins Gespräch holen. Passend zum heutigen Thema haben wir uns einen renommierten Experten eingeladen, der uns sicher dabei helfen kann, die Situation einzuordnen und zu bewerten. Hochverehrtes Publikum, bitte klatschen Sie in die Hände für: einen Experten!

Interessiert beobachtet das routiniert applaudierende Publikum nun einen in die Szenerie stolpernden Mann, der bei einer Täterbeschreibung auf drei markante optische Merkmale reduziert werden würde: Geheimratsecken, kleine, runde Brille und ein sehr, sehr spitzes Kinn. In Reihe vier packt eine Zuschauerin eine Butterbrotdose aus und beginnt, den mitgebrachten Proviant zu verspeisen. Ihr Vergehen gegen die eisernen Regeln eines TV-Studios bleibt unentdeckt und wird nicht sanktioniert.

Experte (gut drauf):
Guten Abend, vielen Dank für die Einladung. Hier bin ich.

Moderator:
Und das ist auch gut so! Wir sind schon sehr gespannt, auf Ihre Einordnung und Bewertung der Situation und versprechen uns so manchen Erkenntnisgewinn durch Ihre Expertise. Sie haben gewiss auch interessiert unserem Betroffenen zugehört und ich kann mir vorstellen, es brennt Ihnen auf der Zunge, sich endlich dazu zu äußern.

Experte (stimmt zu):
Ja, das stimmt.

Moderator:
Na, dann! (macht Gesten, die bloß mit „dann mach auch!“ zu interpretieren sind)

Experte:
Zunächst einmal möchte ich feststellen, dass es sich hier bei unserem Betroffenen um einen ganz typischen Fall handelt. Er zeigt die erwartbare Unsicherheit nach einem derlei gewaltigen sensoneumatischem De-Korrektiv im pulsiven Rheumatorium. Die symflexische Defragmentierung seiner gewohnten Lebensumstände muss erst einmal verarbeitet werden. (der Moderator nickt zustimmend) Überrascht bin ich, wie offen er über das Thema sprechen kann und darf.

Moderator:
Sie finden also auch bemerkenswert und super, dass im Rahmen dieser Sendung einmal mit anstatt bloß über die Betroffenen gesprochen wird?


Experte:
Ja, es ist toll, dass Sie uns hier die Möglichkeit geben, endlich mit anstatt über die Betroffenen zu sprechen. (der Moderator grinst zufrieden) Apropos, dürfte ich ihm auch eine Frage stellen?

Moderator (gönnerhaft):
Nur zu!

Experte (wendet sich zum Betroffenen):
Ich habe Zuhause so ein kleines Frettchen und bin insgesamt schon recht zufrieden mit ihm. Er tapst den ganzen Tag freundlich durch die Wohnung und ist mir ein guter Freund geworden, aber jetzt, nach ein paar Monaten, läuft er Gefahr, mich etwas zu langweilen, kann man ihm vielleicht was Lustiges beibringen?


Betroffener (kennt sich gut aus):
Frettchen sind sehr anspruchsvolle Tiere mit großem Bewegungsdrang und Spieltrieb. Als Ausgleich zu ihrem wilden Gemüt wäre es vielleicht angebracht, ihm etwas Ruhiges, Konzentrationsförderndes beizubringen. Ich denke da etwa an Kartentricks oder spezielle Yogaübungen. Gerne schnüre ich Ihnen im Anschluss an diese Sendung ein individuell auf Ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Kennenlernangebot.

Experte (begeistert):
Klasse, danke!

Betroffener:
Gerne! Wie heißt Ihr Kleiner denn?

Experte (stolz):
Er heißt Theo Retisch, meine Frau und ich, wir sind nämlich sehr lustige Leute, wissen Sie.

Betroffener (kringelt sich vor Amüsement):
Toll! Witzig!

Moderator (greift ein):
Meine Herren! Kommen wir zurück zum eigentlichen Thema! Lieber Betroffener, was ich Sie noch fragen wollte, wie hat Ihr Umfeld reagiert als… Oh, Moment. (er hält sich seinen Finger ans Ohr und schaut konzentriert, offenbar erhält er gerade einen Hinweis aus der Regie) Oha. Wie die Zeit fliegt, wenn man sich gut unterhält! Unsere Sendezeit ist leider schon wieder aufgebraucht. Ich freue mich schon auf unsere nächste Sendung, schalten Sie auch nächste Woche wieder ein, wenn unser Thema heißt: „Wie geht es weiter? Und wohin?“. Und unsere Zuschauer im Publikum bitte ich nochmal für einen donnernden Applaus für unsere Gäste: Ein Betroffener und ein Experte!

Ein letztes Mal tut das Publikum, wofür es hergekommen ist. Die Kameramenschen schalten ihre Geräte ab, die Zuschauer verlassen zufrieden ihre Sitzbänke, innerhalb von zwei Minuten ist das Studio leer. Moderator, Betroffener und Experte reichen sich hinter der Bühne die Hände, Visitenkarten werden ausgetauscht. „War eine tolle Sendung, danke sehr!“, sagt der Moderator.

19.05.2017