Das Leben ist wie eine japanische Fernsehshow: Ich verstehe nicht viel, ist aber ganz witzig

Das Leben ist wie eine japanische Fernsehshow: Ich verstehe nicht viel, ist aber ganz witzig

Klassenfahrt nach Ottersberg, siebte Klasse. Niemand hatte mich daran gehindert, also saß ich mit den coolen Jungs auf Zimmer 18A und schwieg. O. protzte, er hatte bereits ein Mobiltelefon samt einer witzigen Applikation, mit dessen Hilfe man sich in eine Pixelschlange verwandeln und andere Pixel jagen konnte. „Ich habe sogar schon einmal eine Sms geschrieben!“, johlte er. In unseren jungen Ohren klang das, als hätte er sieben Weltromane auf Jiddisch verfasst. Und wenn wir schon nicht mehr mit ihnen spielten, staunten wir sie wenigstens, die berühmten Bauklötze. Während dann einige von uns mit dusseligen Monstern bedruckte Pappkarten austauschten, dachte ich darüber nach, wie ich den Jungs möglichst unpeinlich meine Gefühle für die schöne M. aus der Parallelklasse offenbaren könnte. Mit niemandem hatte ich bislang darüber gesprochen, dass ich tagtäglich beobachtete, welches Pausenbrot sie aß (zumeist: Toast mit diesem Quadratkäse) oder wie sie ihre Haare gemacht hatte. Laut meiner Statistik trug sie an drei von fünf Schultagen einen Zopf. Ihre langen, schwarzen Haare gefielen mir offen getragen besser, aber ich nahm ihr den Zopf nicht übel. Ansonsten wusste ich nicht viel über M. Sie schien ein Fahrrad zu besitzen. Freundinnen auch. Außerdem lackierte sie sich neuerdings die Fingernägel, aber auch das war okay für mich. Ich fühlte mich schlicht gut, wenn ich sie sah. Zeit für den ersten Schritt, oder sagen wir, für das erste Herantasten eines Zwölfjährigen, der erst vor kurzem von Duplo auf Lego umgestiegen war. „Kumpels“, sagte ich mutig ins Gemurmel hinein, einige nahmen meine Anwesenheit erst jetzt zur Kenntnis, „Kumpels, sagt mal, kennt ihr die M.? Aus der b? Wie findet ihr die so?“

E. legte die Sammelkarten beiseite und lachte auf: „Ha! Und wie ich die kenne! Die bläst mir ständig einen!“ Ich wusste nicht, wovon er sprach, aber sollte es stimmen, empfand ich es als ungerecht und wollte auch. Dass man als Zwölfjähriger noch nie von Oralverkehr gehört hat, mag heutzutage zwar unwahrscheinlich klingen, doch ich gehöre der letzten Generation ohne wilde Internet-Pornografie und eifriges öffentliches Rumgebumse an. Wir kannten sowas früher nicht per se! Vermute ich zumindest, oder ich war wirklich keiner der ganz Coolen. „Oja!“, schloss sich V. jedenfalls an, „mir bläst M. auch ständig einen! Noch vorhin, bei der Wanderung! Dreimal! Voll die Bitch! Ich mein, wer hatte die denn noch nicht?“ Ich melde mich als Einziger. Die Jungs lachten. Ich war verwirrt und frug nach, warum M. dieses Blasen mit allen außer mir schon gemacht hätte. „Ich kann ihr ja eine Sms schreiben und fragen“, bot  O. an, doch dann meldete sich L. zu Wort: „Vielleicht hast du AIDS. Meine große Schwester hat da vor ihrem Austauschjahr in Kolumbien mit meinen Eltern drüber gesprochen, ich hab heimlich gelauscht. Und da hat sie versprochen nie etwas mit einem Typen anfangen, der AIDS hat. Klarer Fall.“ Es gab keinen Grund, L. zu misstrauen. Er war schon 13, der Klügste der Klasse, nur gute Noten, Ärztekind, er laberte sich schon in der Grundschule mit Wortbeiträgen wie „Herr Frömmelmann, die richtige Antwort ist Nomen, aber wir sagen noch Namenwort“ in die Herzen der Lehrer. Ich hatte also AIDS. Schnell schlussfolgerte ich: Mit AIDS keine M., mit AIDS kein Blasen. Die Lage verkomplizierte sich: Ich musste etwas loswerden, das ich nicht kannte, um etwas mir ebenfalls Unbekanntes vielleicht erleben zu können. Jugend ist schwierig, aber spannend. Jedoch, wenn selbst M. schon von meinem AIDS wusste, würden es sicher bald auch die Lehrer und meine Eltern erfahren, dann war es das mit dem Tamagotchi zu Weihnachten! Und vor allem, mit M.!

Ich nahm mir L. zur Seite. Er wusste offenbar Bescheid. „Erklär! Los! Sag mir alles, was du weißt!“, flitzte es aus mir heraus. „Also, öhm.“ Er stammelte. Ungewohnt, ihn so zu sehen. „Mhh, also, das ist mit dem Mund da so drüber und dann, mhhh, also…“ „Alter!“, sah ich ihm tief in die Augen, „meinst du jetzt AIDS oder Blasen? Hopp, erklär mal vernünftig! Stell dir vor, das hier wäre ein Latein-Vokabeltest, was zur Hölle hab ich da jetzt für einen Scheiß?!“ „Achso! Achso! Ja, AIDS halt. Ist eine sogenannte…Krankheit, die man…öhm, und dann… Ach, Mist, ich weiß es nicht.“  Er schluchzte. Die letzten vier Worte hatte er in dieser Kombination offenbar noch nie verwenden müssen. Er hatte keine Ahnung. L., der kleine Quacksalber. Mir leuchtete ein: Fehldiagnose! Kein AIDS! Und geblasen wurde auch nicht! Lügner! Die Runde schwieg, hier wusste offenbar niemand irgendetwas. Weder L., noch O., V. oder E. Etwas in mir sagte, dass es nun endlich an der Zeit wäre, M. anzusprechen. Sofort. Ich sprintete zu ihrer Tür, klopfte und tatsächlich, da stand sie vor mir. Ohne Zopf. „Hallo, ich bin Johannes aus der 7a, alle nennen mich Jojo, das darfst du auch und ich habe wie du ein Fahrrad! Wollen wir mal eine Radtour machen? Also, jetzt nicht hier, die haben wir ja nicht dabei, haha! Und nur damit du es weißt, ich habe kein AIDS! Wie geht’s so?“ M. lächelte.