Das ganze Leben ist ein Hurz

Das ganze Leben ist ein Hurz

Und dann war da dieser Abend, an dem Gott einen Stromausfall in meine Wohnung schickte. So saßen wir zwei dann da im Dunklen und konnten die neue Folge „Gossip Girl“ nicht zu Ende gucken, was ihr mehr zu schaffen machte als mir. Tschüss ProSieben, hallo Realität. Eine neue Beschäftigung musste her. Wir überlegten, ich schlug Geschlechtsverkehr vor. Wir überlegten weiter. Während ich hilflos wie ein Löwe auf einer Eisscholle im Stromkasten herum friemelte, fand meine Freundin in den tiefen Untiefen (hehe, paradox!) meines Schrankes eine rechteckige Schachtel. Diese enthielt ein analoges Videospiel: „Trivial Pursuit“, das heitere Quizspiel in der Familien-Edition. Auf dessen Unterseite lasen wir: 1999. „Da war ich ja erst acht Jahre alt“, sagte ich. „Ich noch nicht einmal das!“, sagte sie. Doch wir nahmen die Herausforderung an, unter Kerzenlicht wagten wir die Reise zurück ins vergangene Jahrtausend. Beim Auspacken stellten wir fest, dass es zwei Fragenpakete gab: Eins für Kinder, eins für Erwachsene.

Die Schwierigkeit der Fragen divergierte stärker als unsere Begeisterung für amerikanische Mädchenserien. Eine typische Erwachsenenfrage war etwa: „Wie viel Grad Zimmertemperatur herrschten vor, als Ernest Hemmingway 1952 ‚Der alte Mann und das Meer‘ schrieb?“ Kindern hingegen traut man das Beantworten von Fragen wie „Was hat vier Reifen, macht ‚brummm, brummmm‘ und fährt auf der Autobahn?“ zu. Hm, schwierig. Sie sagte: „Wir können natürlich auch die Spastiker-Version von ‚Trivial Pursuit‘ spielen, da ist jede Antwort ‚öööarrgh‘.“ und ich schmunzelte, obwohl der Witz sehr menschenverachtend und gemein war. Vielleicht auch gerade deswegen. Ohnehin ist Menschenverachtung sehr populär. Wenn sich Menschen derzeit auf eines einigen können, dann darauf, dass alle Anderen dumm und scheiße sind. Es ist ein wenig schade, dass fleißige Misanthropen sich nicht vor die Tür bzw. auf Parties trauen, sonst käme es dort zu schönen Gesprächen.

„Und du, was machst du so?“
„Och, ich hasse mich so durch die Welt und verachte dich und euch und alles und jeden.“
„Oh, das ist ja toll! Ich hasse auch alle Menschen! Haderst du denn auch so richtig schön mit der Gesellschaft?“
„Oja, ich verachte sie hingebungsvoll und in jeder Sekunde! Komm, lass uns bumsen!“
So etwas passiert in der gemeinen Realität nicht. Vermute ich zumindest, weil ich aus Gründen nicht auf Parties gehe und vielleicht liegt da das Problem und „bumsen“ sagt man glaube ich auch nicht mehr, aber das ist hier nicht das Thema. Wir entschieden uns dann doch für die Erwachsenenfragen, weil wir uns für sehr klug hielten.

Ich würfelte. Fünf. Themenkomplex ‚Sport‘. Da kenne ich mich eigentlich aus. Sie las die Frage vor: „Wie viele Athleten entsandte Litauen für die Olympischen Spiele 1928 in Amsterdam?“ Ich riet ins Blaue: „Tausend?“, sie schüttelte mit dem Kopf: „Zwölf wäre richtig gewesen. 1999 wusste man so etwas.“ Ähnlich ging das dann ein oder zwei ganze Weilen, bis ich dazu überging, Freude an Quatschantworten zu finden.
„Wie hoch ist die durchschnittliche Pro-Kopf-Neuverschuldung in Deutschland pro Jahr?“ „Zwei Meter!“,
„Wie heißt die Hauptstadt von Papua-Neuguinea?“ „Bernd!“,
„Mit welchem Wort beginnt Brechts Drama ‚Mutter Courage und ihre Kinder?“ „Öööarrgh!“,
„Wer spielte in Fritz Langs Meisterwerk ‚Metropolis‘ den Zeremonienmeister?“ „Werner Schulze-Erdel!“.

Und ich dachte, es würde ewig so weiter gehen. „So geht das nicht weiter!“, sagte sie, es ging also doch ewig nicht so weiter, sie holte ihr Handy hervor. „Hier, das Teil hat noch ein bisschen Akku und weiß alles. Stell mir eine Frage, ich werde sie dir beantworten.“ Sie stand auf einem Erkunde-Feld, doch die nächste Frage brauchte ich nicht vorlesen, sie lag mir bereits auf der Zunge: „Sind wir dumm?“ Sie stutzte. „Nein, wir wissen doch, wo wir die Antworten finden. Entweder auf der Kartenrückseite oder im Internet.“ Ich nahm ihr das Mobiltelefon ab und pustete die Teelichter um uns herum aus.

„Und jetzt?“
„Jetzt haben wir keine Fragen mehr.“
„Macht uns das nicht automatisch dumm? Du kennst doch das Lied aus der Sesamstraße: Wer nicht fragt, bleibt dumm.“
„Johannes, ganz ehrlich, ich habe jetzt keine Lust auf Gelegenheitsphilosophie. Wir wollten uns doch einen schönen Abend machen.“
„Nein, wir wollten ‚Gossip Girl‘ gucken.“ Sie seufzte.
„Weißt du, was dumm ist? Streit.“
„Aber alle Menschen haben ab und an Meinungsverschiedenheiten. Das ist halt so.“
„Dann sind Menschen vielleicht dumm. Deswegen hasse ich sie ja auch so.“
„Ich übrigens auch. Du, sag mal, wollen wir bumsen?“

Und während wir dann so bumsten ging der Fernseher wieder an.

(verfasst am 31.10.2012)