Auf Halde

Auf Halde

Eine junge Dame und ein alter Mann sitzen sich unbekannt in einem öffentlichen Verkehrsmittel gegenüber. Sie sind allein. Sie schweigen. Die junge Dame zieht ihr Oberteil aus, sie trägt keinen Büstenhalter. Sie streckt ihren Oberkörper, es kommt eine Nachricht auf ihren Brüsten zum Vorschein: „FREIE MÖPSE GEGEN PUTIN, MERKEL UND ALL DIE ANDEREN NASEN DIE DA SO RUMREGIEREN!“. Ihre Oberweite ist verhältnismäßig üppig. Sie schaut zu ihm herüber, ihre Augen funkeln auf eine derart neue Art und Weise, dass es noch kein passendes Adjektiv dafür gibt; ja, das muss Revolution sein. Der alte Mann jedoch bleibt ausdruckslos sitzen als wären Brüste, Worte und Situation nicht gegeben. Sie wartet. Busen und Botschaft verharren viele Sekunden still in der Luft. Sie wartet. Ungeduldig beißt sie sich auf die Lippe, sie entkreuzt ihre Beine, als stünde dort noch ein Nachwort. Sie wartet weiter. Er schaut aus dem Fenster und beobachtet. Randnotizen hier und dort.

Ein bärtiger Klumpen Mensch flucht vor einem Zigarettenautomaten, weil der verdammte Kasten wieder einmal nur Scheine nimmt und ihm immer noch nicht glaubt, dass er achtzehn Jahre alt ist. Ein kleines Mädchen hat Kopfhörer im Ohr und schaut auf ihr Mobiltelefon; sie ist nicht dort, wo sie sich bewegt. An einer Hauswand prangt ein Hakenkreuz, aus dem wiederum ein anderer Sprayer mit wenigen Strichen ein Fenster gemacht hat. Alles sehr interessant. Und ihm da hängen immer noch diese zwei sehr großen Brüste. Nun also doch, er schaut sie sich an. Er liest beachtlich ausführlich. Möpse, recht vulgär, früher sagte man so etwas nicht. Aber früher sagte man auch noch „Kapelle“ statt „Band“. Was hat die Merkel eigentlich schon wieder falsch gemacht? Und wie häufig passiert es, dass man Brüste betrachtend an Frau Merkel denkt? Er blickt ins Gesicht der jungen Dame. Zurück auf die Brüste. Wieder hoch, ein etwas hilfloser Blick in ihre Augen. Schließlich sagt er: Nichts.

Drei Haltestellen lang steigt niemand ein. Die Türen öffnen sich, die Türen schließen sich. Wie Statuen sitzen sich Mann und Frau starr gegenüber. Durch das Fenster fällt das Sonnenlicht direkt auf ihren Oberkörper, als säße sie im Scheinwerferlicht einer mittelgroßen Filmproduktion. Nächste Haltestelle: Holstenstraße. Wieder schieben sich die Türen auf, tatsächlich steigt jemand ein, eine alte Dame. Sie schaut sich suchend um, setzt sich neben den alten Herrn und wirkt überaus euphorisch. „Tach Heinz! Schau mal, meine Haare, sind die nicht toll geworden?“ Ihr Ehemann nickt stumm und ausdruckslos, die struppigen Haare seiner Frau leuchten feuerrot mit ein paar scheinbar wahllos in die Haarpracht geschluderten, schwarzen Strähnchen. „Das hat Herr Borgeln wieder wunderbar hinbekommen, ich wirke jetzt mindestens zehn, ach was, elf Jahre jünger!“ Erst jetzt bemerkt sie die junge Frau gegenüber, genauer gesagt, ihre nicht zu übersehenden Brüste. Offenbar ist ihre neue Mähne nun nicht mehr so wichtig, die Euphorie weicht Empörung.

„Herrje, sagen Sie, junge Dame, laufen Sie immer so herum? Was bilden Sie sich ein, hier halbnackt in der Öffentlichkeit herumzuhocken? Stellen Sie sich vor, das täte jeder! Soll ich mir etwa auch meine Bluse aufknüpfen?“ Unbemerkt von seiner Frau schüttelt der Mann leicht mit dem Kopf. „Da ist mir dann auch egal, was da drauf steht, viel schlimmer ist, dass sie sich hier in vor allen Augen und meinem Gatten entblößen, da kann man ja gar nicht hingucken! So eine Ferkelei, eine Schande sind Sie, eine Schande! Heinz, findest du nicht auch?“ Ihr Ehemann nickt, wie man es von ihm erwartet, dann merkt er etwas unsicher und stotternd an: „Jaja, also, ich finde das auch nicht okay, so die Brüste, auch wenn die schön sind, so rumzuzeigen, das macht man nicht, also, ungeheuerlich, jaja.“ In Angst, etwas falsch formuliert zu haben, schaut er Bestätigung suchend herüber zu seiner Frau. Feuerrote Haare findet er eigentlich gar nicht so schön. Was sollen diese Strähnchen? Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn sie brünette geblieben wäre, so wie gestern, vorgestern, immer. Die junge Dame indes kratzt sich kurz am Hals.

Die automatische Haltestellendurchsage kündigt den nächsten Halt an, die Ehefrau packt ihren Mann am Arm: „Komm, Heinz, wir steigen hier schon aus und laufen den Rest. Diese ‚Enthüllungen‘ hier will ich mir nicht länger ansehen, grausam, grausam, keine Manieren, wenn ich das der Marion erzähle, die fällt aus allen Wolken! Und Sie, junge Dame, sollten sich tatsächlich einmal fragen, was Sie da aus Ihrem Leben machen. Guten Tag!“ Die Rote und der Alte verlassen die Straßenbahn, die junge Dame bleibt allein zurück. Sie schmunzelt als hätte man ihr eine traurige Geschichte humorvoll erzählt. Aus ihrer Tasche holt sie ein T-Shirt heraus und zieht es sich über. Ein Jugendlicher steigt ein und setzt sich ihr gegenüber. Als er ihr dann einmal kurz heimlich auf die Brüste schauen will, liest er einen Spruch, der auf das Shirt aufgedruckt ist: „Oberflächen kann man sehen, während man Tiefen deuten muss.“ Er versteht nicht ganz und wünscht sich, sie zöge es stattdessen lieber wieder aus.

(geschrieben am 24.07.2013)