Die Rutsche bei McDonald’s

Sie ließen alles stehen oder liegen, je nachdem, und stiegen in den Einsatzwagen. Blaulicht an. Anschnallen. Vollgas. Ihr Ziel: Die McDonald’s-Filiale auf der Beuler Straße. Vor zwei Wochen erst eröffnet, weder Simon noch Nils waren bislang dort gewesen. Gutes über die Burgerbraterbude hatten sie aber schon gehört, nämlich, dass es dort schmecke wie überall anders auch. Doch nicht der Heißhunger führt sie heute dorthin, sondern ein verzweifelter Notruf. Die Laute des Anrufers sind ihnen noch präsent: Hilfe, aaah, oh nein, kommen Sie schnell, aaah. In seiner Verzweiflung hatte er nicht kommunizieren können, was nun tatsächlich das Problem war. Eine explodierte Fritteuse? Ein Burgerdieb? Oder Mord? Ein Mord wäre unwahrscheinlich, sagten sie zu sich (gleichzeitig), aber ein guter Polizist schließt nichts aus und rechnet mit allem. Vorsorglich zieht sich Nils feuerfeste Handschuhe an und einen Hut. „Ist es pietätlos, wenn ich mir da direkt was zu Mittag hole?“, fragt Simon seinen Kollegen. „Erst die Arbeit, dann die Völlerei“, sagt Nils. Sie biegen in die Zielstraße ein, mitten im Gewerbegebiet gelegen. Von Außen sieht alles ganz normal aus. „Also, von Außen sieht ja alles ganz normal aus“, sagt Simon und bestätigt mich, den Erzähler, in meiner Analyse der Lage. Hab ich echt nicht schlecht festgestellt. Hätte ich vielleicht auch Polizist werden können? Nicht, dass ich in meinem Beruf unglücklich wäre, Erzähler ist schon ein ganz okayer Job, ständig passiert was Neues und so. Doch in Momenten wie diesen trauere ich schon den verpassten Chancen nach, womöglich nicht alles aus mir herausgeholt zu haben.

„Jetzt übertreib mal nicht deine Rolle“, sagt Nils plötzlich zu mir. „Du hast exakt das getan, was dein Job ist: Beschreiben. Um zu bemerken, dass der McDonald’s von außen ruhig erscheint, dafür braucht man keine Polizeiausbildung, sondern einfach nur zwei Augen im Kopf. Mach jetzt mal da deinen Erzählkram weiter. Will wissen, wie es weitergeht.“ Stimmt, denke ich. Eilig stürmen Nils und Simon aus ihrem blau-neongelben Wagen hinein ins Restaurant, das manche „McDoof“ nennen, aber immer nur die seltsamen Leute, die auch „Schlepptopp“ sagen oder „ich wähle ja die FDP, weil die für Freiheit sind“. In der Systemgastronomie angekommen riecht es nach Chicken McNuggets mit süß-saurer Sauce, Plastikspielzeug und Kindergeburtstag. Aufgebracht empfängt sie der Mitarbeiter, den sie anhand seiner Stimme rasch als den Anrufer identifizieren. „Die Rutsche… Die Rutsche…“, murmelt er, aufgrund der Lage offenbar nicht imstande, vollständige Sätze zu bilden. „Herr Jakob, jetzt beruhigen Sie sich doch erst einmal“, sagt Simon und legt freundschaftlich auf die linke Schulter des Mannes, dessen Nachnamen er von seinem Namensschild abgelesen hat. Herr Jakob atmet schwer, sein Blick ist zum Boden gesenkt. Er zittert. Nils macht sich Notizen. Eine Frau nähert sich, sie hat Tränen in den Augen. Das sind keine Freudentränen, analysiert Nils korrekt. „Mein Sohn, er ist verschwunden. In der Rutsche! Weg!“, sagt sie. Ah, eine Entführung, denkt Nils. Wenn wir hier fertig sind, hole ich mir eine große Pommes und zwei Big Tasty Bacon, denkt Simon.

Im hinteren Bereich des Restaurants führt eine Türe zum Außenbereich. Ein paar Stühle und Tische, dazu ein kleiner Kinderspielbereich mit besagter Rutsche. Die Frau berichtet, wie ihr Sohn Max nach dem Essen rutschen gehen wollte, „wie immer“. Freudig wäre er die Spindeltreppe hochgerannt, und„Juhuuu“ habe er die ersten Rutsch-Meter noch gerufen, doch dann wäre sein Ruf verstummt. Und jetzt ist er weg. Nils macht sich weitere Notizen. Er weiß nicht, wie die Frau heißt, weil sie kein Namensschild trägt und sie sich nicht vorgestellt hat. Unhöflich, aber der hektischen Ausnahmesituation geschuldet. Ungläubig beugt sich Simon gen Rutschenausgang:„Die Rutsche hat Ihren Sohn also… verschluckt?“ Auf ihn wirkt sie unscheinbar. Er röhrt hinein: „Maaaaaaaax?“ Ein kurzer Hall, aber keine Antwort. „Nils, geh mal hoch, nachschauen, wie es von oben aussieht. Ich bin zu groß dafür.“, sagt Simon (1,94 Meter). Nils (1,83 Meter) lehnt ab: „Und wer macht dann die Notizen?“ In Wahrheit trauen sich beide nicht. Als Polizist schließt man nichts aus, rechnet mit allem, aber es gibt dennoch Grenzen. Zum Beispiel eine Rutsche, die Menschen verschwinden lässt. Über die erfährt man in der Polizeiausbildung nichts. „Was ist denn nun?“, wird Herr Jakob ungeduldig. Auch er hält Sicherheitsabstand. „Oh, sorry, vergessen zu sagen, ich heiße Britta Meyer“, stellt sich Frau Meyer schließlich doch noch vor. „Meyer mit e und y“. Nils notiert.

Schweigend steht das Quartett um die Rutsche herum. „Haben Sie noch andere Kinder? War Max Ihr Lieblingssohn oder…“, fragt Simon schließlich. Frau Meyer bricht wieder in Tränen aus. „Schluss mit dem Gelaber! Jemand muss jetzt in die Rutsche rein! Wenn sich das rumspricht, dass hier Kinder verloren gehen, das ist nicht gut fürs Geschäft!“, sagt Herr Jakob, ihm reicht es endgültig. „Gehen Sie doch rein.“, schlägt Nils vor. „Ist das nicht Ihr Job?“, antwortet er. Ein kleines Handgemenge entsteht, von Sohn Max oder mutiger Entschlossenheit weiter keine Spur. „Okay, ich mach’s.“, sage ich. „Ist das nicht… der Erzähler?“, sagt Simon erstaunt. Ja, ich bin es. Mit erhobenem Haupt steige ich die Spindeltreppe herauf, blicke nochmal in die verdutzten Gesichter der Leute, setze mich in die Rutsche und dann