Tanze so auf dem Rasiermesser, als sähe niemand hin
„1914. In Europa herrscht Krieg. Stielhandgranaten flogen über all die Pickelhauben und Stahlhelme; vereinzelt waren Schreie zu hören von denen, die wenigstens noch schreien konnten. Glücklicherweise spielt unsere Geschichte viel, viel früher, in 1573. Im kleinen französischen Dorf ‚Le petit Fromage“ an der südlichen Westküste versammelten sich ein paar Vagabunden am Lagerfeuer. Man trank Selbstgebranntes und spielte eine frühe Version von ‚Reise nach Jerusalem‘, wobei das Spiel damals noch ‚Reise nach Paris‘ hieß, da man Israel noch nicht entdeckt hatte.“
„Papa, stop. Im 16. Jahrhundert war Israel sehr wohl bereits entdeckt. Bibel, Jesus, die Römer waren dort. Und wieso heißt der Ort ‚Kleiner Käse‘? So ein Unsinn. Ich fürchte, das wird die schlechteste Gute-Nacht-Geschichte, die du mir je erzählt hast. Und ich kenne dich schon sehr lange!“
Es ist kurz vor oder kurz nach neun Uhr. Der Filius ist in bunte Dinosaurier-Bettwäsche gehüllt, seine rechte Hand liegt auf einem Triceratops, die Stimmung hingegen im Argen. Wie üblich unterbrach der Vater seinen Fernsehabend, um seinen Sohn mit einer heiteren Quatschgeschichte in den Schlaf zu plaudern. Doch nun beginnt der Sohn erstmals mit Nachfragen, Zweifeln und Rebellion. Es scheint, er käme langsam in die Pubertät.
„Also, versuch es noch einmal, Papa. Dieses Mal bitte ohne Firlefanz und Kladderadatsch. Nimm mich gefälligst ernst, ich kann seit letzter Woche Fahrradfahren!“
„Nun gut.“, der Vater räuspert sich, „ich versuche es noch einmal. Damals, es war ein Mittwoch oder Donnerstag im mittelalterlichen New York, herrschte ein unguter Zwist zwischen dem blasierten Bauern Balduin und der humorigen Hofmagd Holdine. Balduin verbrachte seine freien Nachmittage häufig damit, mit einem zweiten Abakus auszurechnen, wie viele Kugeln eigentlich an einem Abakus angebracht sind. Holdine hingegen wusste nichts von Balduins Existenz. Es war damals sehr ungewöhnlich, dass sich zwei Bewohner desselben Ortes nicht kannten. Die Entwicklung, dass das zu intensive Beschäftigen mit Geräten und Maschinen zum Fehlen realer Kontakte führt, kennen wir eigentlich erst seit dem späten 20. Jahrhundert. Insofern waren Balduin und Holdine gewissermaßen asozialwissenschaftliche Pioniere, gerne darf man ihnen aber auch Diverses vorwerfen. Glücklicherweise lernten die beiden sich dann doch noch kennen, weil Holdines Vater der größte Abakus-Spezialist in ganz New York war. Sie heirateten noch am selben Tag und lebten froh bis ans Ende ihrer Tage. Ende. Schlaf schön, mein Sohn.“
„Moment!“, sprach der Sohn mit langgezogenem O und die Augen, die während des Monologs geschlossen waren, öffneten sich mit einem Blick voller Nachfragen, Zweifeln, Rebellion und Pubertät. „Vati, was mich an deinen Geschichten meistens stört: Sie haben ein Happy End. Gegen die ist ja grundsätzlich nichts einzuwenden, aber, jetzt kommt ein aber: Die wirklich, wirklich guten Geschichten haben ein trauriges oder offenes Ende. Nix mit Heititei, alle sind glücklich und alles null problemo. So ist das Leben nicht! Das Leben ist ein Arschloch, nur auf zehn beschissene Tage folgt ein guter, seien wir doch ehrlich! Ich meine, wo sind denn die Dinos alle hin? Oder Mami? War wohl doch alles nicht so töfte bei euch. Wer träumt, der lügt!“
Von der neuerlichen Misanthropie seines Sohnes war der Vater sichtlich überrascht. Kurz dachte er darüber nach, was er in der jüngeren Vergangenheit grob falsch gemacht haben könnte, doch da er schlecht im Reflektieren war, fiel ihm nichts ein. Er sah das abendliche Geschichtenerzählen als erzieherische Dienstleistung, also frug er marktgerecht nach den Wünschen: „Wie sollten die Geschichten deiner Meinung nach denn sein?“
„Realistisch. Näher am Leben. Es kommt mir vor, als wärst du der von uns beiden, der in der Zeitung nur die Witze liest. Pass auf, als du heute Nachmittag lustige Sachen im Interwebs gemacht hast, habe ich mir ein paar Notizen gemacht. Hier, lies das mal vor.“
Der Sohn streift die Dinosaurier-Bettwäsche beiseite, einige Blätter Papier kommen zum Vorschein. Mit gelber, grüner und roter Wachsmalkreide sind ein paar Worte darauf gekritzelt worden. Überrascht und beschämt zugleich nimmt der Vater sie entgegen. Um sie vorzulesen, muss er die Augen ein wenig zukneifen, er ist nur der Zweitjüngste im Raum. Unter dem schelmischen Grinsen des Sohnes begann er, vorzulesen:
„Mittelalter, irgendein Tag, irgendwo in den USA, ist ja auch egal. Zwei verliebte Männer, die sehr oft weinten, weil Homosexualität noch nicht okay war, fühlten sich in ihrem Hass auf die intolerante Arschloch-Gesellschaft und die Welt im Allgemeinen vereint. Heimlich, aber schmusend verbarrikadierten sie sich in ihrer Kaschemme und ihr verstecktes Glück könnte für immer währen. Wenn da nicht im fernen, heutigen Nordkorea ein winziger Monarch mit großer Macht lebten würde. Sein Name bestand wie dort üblich aus einem Mädchennamen und zwei Fantasieworten: Marlene Utz Pengpeng. Unterdrücken allein machte Marlene Utz Pengpeng nicht mehr froh, Fußballvereine als mögliches Hobby gab es noch nicht, also bedrohte er die westliche, ferne Welt, die man damals übrigens sehr wohl schon entdeckt hatte, mit damals gängigen Waffen: Katapulte, der flachen Hand und Religion. Da lachte die westliche Welt ungefähr so: Hahaha, ha. Niemand nahm Marlene Utz Pengpeng ernst, auch unsere beiden Helden nicht. Umso ärgerlicher, dass just während des bei Homosexuellen üblichen Poficks eine große, nordkoreanische Kuh in ihre Wohnung flog und implodierte. Überdies gab sie den beiden Gesellen ein paar Klapse mit ihren Hufen und drohte mit Fegefeuer. Da war das Glück dahin. Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, wurden zeitgleich ein paar hoffnungsvolle Ehen geschieden und ganz schön viele Menschen bekamen AIDS. Schlimme, böse Welt. Ende.“
Der Vater hatte das Gekritzel gerade erst fertig gelesen und sich sehr fleißig gewundert, da sah er, was er angerichtet hatte: Sein Sohn war mit seinem frechen Grinsen einfach so eingeschlafen. Er zuckte mit den Schultern und ging zurück ins Wohnzimmer, Fernsehen.