In der Belsenstraße, zwischen einem Tchibo und Leerstand, da sitzt jemand auf einer Daunendecke und spielt virtuos Gitarre. D-Dur, A-Mol, alles dabei, auch Barrégriffe und Coverversionen von Songs, die „man kennt“. Manchmal wirft ihr jemand Geld zu und jedes Mal fängt sie es problemlos auf, 50-Cent-Münzen schmecken ihr am besten. Geld ist ihr Gemüse. Da kommt ein Wirbelsturm und weht den Tchibo fort, nur den Tchibo. Alle Sonderangebote und Kaffeesorten sind fort, auch die Mitarbeitenden und die Kassensysteme, von dannen gewirbelt und wegrationalisiert von der Natur, die sich hier zurückholt, was ihr gehört, nämlich die Belsenstraße. Da spielt die Straßenmusikerin spontan „Blowin’ in the Wind“ von Bob Dylan, der versunken in einem Trenchcoat von der Straßenseite gegenüber zusieht und sich leise freut, zu überdauern. Der Literaturnobelpreis in seiner Hosentasche wärmt ihn gut an diesem Tag, an dem der Präsident von Venezuela das erste Mal in seinem Leben geweint hat. Korruption, Steuerhinterziehung, Sexismus, Bestechung, die Beweislast ist erdrückend und es sieht so aus, als habe man ihn nun am Schlafittchen, endgültig. Hände über den Kopf geschlagen, eine Glühbirne flackert in der Nacht. So schmecken also Tränen, denkt er. Salzig und schön. Er fasst den Entschluss, zu fliehen. Das Land verlassen, gen Westen oder Süden, egal, ein ganz neues, geiles Leben würde er beginnen; mit 66 Jahren fängt das Leben an oder wie man bei ihm sagt: La vida comienza a los 66 años. Eine Motte fliegt ins Licht und zerfällt.
Am Himmelstor angekommen erwartet sie erstmal der übliche Papierkram. Guten Tag, wer sind Sie, Ausweis bitte, sind Sie getauft, Kommunion oder Bar Mizwa, Todesursache, Versichertenkarte, sind Sie Buddhist oder zum ersten Mal hier, Wertgegenstände bitte hier auf das Laufband, oh, sieht so aus als hätten Sie hier irgendeine Frist vergessen, bitte stellen Sie sich nochmal dort drüben an, machen Sie sich bitte obenrum frei. Boah, Sterben ist richtig scheiße, denkt die Motte. Die Glühbirne war nicht der Mond. Hinterher ist man immer schlauer. Aus der Ferne ein Röstaroma, südamerikanisch, karamellig, modrig und köstlich, mit jeder Sekunde, die vergeht, zieht ein wohliger Kaffeeduft näher herüber zum Himmelstor; ja, es ist die Tchibo-Filiale aus der Belsenstraße, die hier angeflogen kommt. Wunderbar, denkt die Queen, ein Geschenk des Himmels. Der Filterkaffee hier ist widerlich, der macht ihr immer so einen Durchfall und die anderen Leute tuscheln dann immer, wenn sie mal was länger auf dem Klo sitzen muss als nötig. Schaut mal, die Queen hat bestimmt gerade Spritzdurchfall oder spielt Candy Crush, hihi. Die Meinung anderer Leute kann einem immer nur dann egal sein, wenn sie nicht wissen, wer man ist. Ist man aber zufällig die Queen, so wird alles, was man tut, zur Anekdote. Nicht einmal sterben konnte sie in Ruhe, dabei ist der Tod sonst der stillste Moment eines Menschen. Doch bei ihr waren sie wieder alle auf sie gerichtet, die Kameras und Blicke der Leute. Ciao Leute, das war es von mir, hat sie gesagt, ganz leise und auf Englisch, klar, ciao guys, that was it from me. Krass, da ist die Queen und denkt nach, woran die wohl denkt, denkt die Motte.
Unten auf der Erde stürmt die Policía Nacional das Büro des Präsidenten Venezuelas. Hände hinter den Rücken, Sie haben das Recht, zu schweigen mit 66 Jahren fängt die Haftstrafe an. Die frohe Kunde verbreitet sich wie ein Leuchtfeuer über Twitter, die Straßen füllen sich rasch mit vor Freude weinenden Menschen an diesem Tag, an dem ein Teil der Bevölkerung Venezuelas das erste Mal in ihrem Leben gejubelt hat. So fühlt sich also Freiheit an, denken sie. Köstlich und schön. Währenddessen in der Belsenstraße, zwischen Leerstand und Leerstand, sitzt die Straßenmusikerin auf einer Daunendecke und spielt virtuos Gitarre. Da, wo einst der Tchibo war, stellt jemand ein „Hier entsteht ein Starbucks“-Schild auf und wirft der Musikerin eine 50-Cent-Münze zu, sie fängt sie, rund und köstlich, danke sehr. Schon krass, das Leben und die Gleichzeitigkeit der Dinge, denkt sie und spielt „The Times They Are A-Changin’“. Schon wieder ein Song von mir, denkt Bob Dylan, das wird mir jetzt zu viel. Leise murmelt er: Ciao guys, that was it from me, verschwindet in einer Seitenstraße und fliegt ins Licht.